„Wir wollen bei der Mobilitätswende mitmischen!“

Im Gespräch mit Julia Friedrich, Geschäftsführerin des DGB Region Stuttgart.

Julia Friedrich, Geschäftsführerin des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Region Stuttgart, erklärt im Interview, welche Rolle Gewerkschaften bei der Mobilitätswende spielen können, welche Heraus-forderungen in einer ausgeprägten Autoregion zu bewältigen sind und wie der DGB in Sachen Mobilität selbst aufgestellt ist.

Frau Friedrich, Gewerkschaften setzen sich für gerechte und solidarische Verhältnisse ein – in der Arbeitswelt aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Kann es eine ökologisch sinnvolle und gleichzeitig sozial gerechte Mobilitätswende geben?

Julia Friedrich: Das glaube ich, ja. Voraussetzung dafür ist, dass die Mobilitätswende gemeinsam gestaltet wird und alle Belange berücksichtigt werden. Mobilität muss bezahlbar, effizient, sozial- und klimaverträglich sein, sie darf also nicht vom Einkommen oder Wohnort abhängen. Insbesondere die Arbeitswege dürfen dabei nicht zur zusätzlichen Belastung werden. Aktuell ist es aber leider so, dass die Pendelverkehre eher immer länger und damit zeitintensiver werden. Das hat vor allem mit dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum im Ballungsraum Stuttgart zu tun. Die Menschen müssen immer weiter wegziehen und haben dadurch immer weitere Wege zum Arbeitsplatz, was….

…. nicht gerade sozial gerecht klingt!

Julia Friedrich: Das ist es natürlich auch nicht. Umso wichtiger ist es, dass sich die Gewerkschaften bei diesem Schlüsselthema entsprechend einbringen, damit letztlich allen Menschen gleichermaßen Teilhabe an Mobilität ermöglicht wird. Die Region Stuttgart erlebt gerade wie viele andere Regionen auch einen tiefgreifenden Strukturwandel, einen umfassenden wirtschaftlichen Transformationsprozess, der nahezu alle Lebensbereiche betrifft. Es geht dabei um unsere gemeinsame Zukunft, um hohe Lebensqualität, sichere Arbeitsplätze, gute Arbeitsbedingungen. Mobilität wird in diesem Kontext eine immer wichtigere Rolle spielen, daher beschäftigen wir uns sehr intensiv mit den unterschiedlichen Aspekten und der Frage, wie die notwendige Verkehrswende sozial gerecht und ökologisch sinnvoll gelingen kann.

Und wie läuft es aus Ihrer Sicht – sind wir auf einem guten Weg?

Julia Friedrich: Auf einem mittelmäßig guten Weg würde ich sagen. Ich denke, dass wir schon einiges weiter sein könnten und auch müssten. Einerseits ist das gesellschaftliche Bewusstsein dafür immer noch nicht so ausgeprägt wie es notwendig wäre. Gleichzeitig steckt die Mobilitätswende zu sehr in der Theorie fest, in unzähligen bürokratischen Verfahren und Debatten, die oft nichts mehr mit demokratischer Willensbildung zu tun haben. Es ist eine Art Schlagabtausch auf abstrakter Ebene, bei dem über Jahre um die perfekte Lösung gestritten wird. Die gibt es aber in der Regel gar nicht. Wir müssten viel mehr ins Tun kommen, raus aus der Konzeptphase, einfach etwas ausprobieren und machen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Verkehrsversuch Superblock im Stuttgarter Westen. Nur in der Praxis kann man Änderungen erleben und Erfahrungen sammeln, auf denen man aufbauen kann. Und dann braucht es natürlich ausreichend finanzielle Mittel für die notwendige Infrastruktur und attraktive Arbeitsplätze. Stattdessen wird nun schon wieder darüber diskutiert, ob das Deutschland-Ticket teurer werden muss. So kommen wir nicht voran. Die Mobilitätswende ist notwendig und gewollt, daran gibt es ja keine Zweifel mehr. Der Wille alleine reicht aber nicht.

Also braucht es Akteure, die mit gutem Beispiel vorangehen – den DGB beispielsweise?

Julia Friedrich: Der DGB ist gewissermaßen der politische Arm der Gewerkschaften, die Stimme gegenüber den politischen Entscheidungsträgern, Parteien und Verbänden in Bund, Ländern und Kommunen. In diesem Sinne sehen wir uns in der Tat als politischen Akteur mit Vorbildfunktion. Das war für uns auch einer der Gründe, am regionalen Impulsprogramm zum betrieblichen Mobilitätsmanagement der WRS teilzunehmen. Das Thema Mobilität ist sehr komplex und muss systematisch angegangen werden, alleine und ohne Know-how von außen schafft man das nicht. Es braucht dafür ein konkretes Verfahren, das die Wege und Möglichkeiten aufzeigt.

Und welche Möglichkeiten sind aufgezeigt worden?

Julia Friedrich: Es ist zunächst eine Frage der Akzeptanz, ob Beschäftigte ihr Mobilitätsverhalten ändern oder eben nicht. Man muss die Menschen mitnehmen. Das steht über allem. Das A und O ist daher, dass man sich zuerst die einzelnen Wege genau anschaut. Wir arbeiten hier in einem großen Haus in der Stuttgarter Innenstadt, die Anbindung an den ÖPNV ist daher naturgemäß ausreichend gut. Viele unserer etwa 30 Beschäftigten des DGB-Region Stuttgart kommen ohnehin seit jeher mit der Bahn oder dem Fahrrad. Relevant sind aber auch die Wege, die während der Arbeit zurückgelegt werden müssen. Wir betreuen mit unserem Büro die gesamte Region Stuttgart, müssen also auch nach Geislingen, Murrhardt oder Göppingen. Und das nicht immer nur zu normalen Bürozeiten, sondern oft auch am Wochenende oder am Abend. Häufig muss dabei Infomaterial transportiert werden oder ein großer Stand mit Pavillon. Die Wege sind dabei ungleich verteilt. Ich selbst bin beispielsweise hauptsächlich in der Stadt unterwegs, wofür das Deutschland-Ticket reicht. Andere haben regelmäßig im ganzen Landkreis Göppingen oder anderswo Termine. Zudem arbeiten hier im Haus auch Kolleginnen und Kollegen, die für das ganze Land zuständig sind, die beispielweise nach Ravensburg müssen und in den Schwarzwald. Je schlechter die Infrastruktur ausgebaut ist, desto größer sind die Sorgen und Ängste gegenüber Änderungen bei der Mobilität, also etwa dem Verzicht auf den eigenen Dienstwagen.

Der abgeschafft wurde?

Julia Friedrich: Wir hatten für unser Büro zwei Dienstwagen mit Stellplätzen in der Tiefgarage. Diese haben wir als eine der Maßnahmen aus dem regionalen Impulsprogramm abgeschafft. Stattdessen haben nun alle Beschäftigte, die regelmäßig Auswärtstermine haben, eine Kundenkarte bei Stadtmobil. Das hat den Vorteil, dass die Fahrzeuge je nach Einsatz flexibel ausgeliehen werden können. Also je nachdem, ob ein großer Pavillon transportiert werden muss oder ein Besprechungstermin in der Innenstadt ansteht, wofür ein kleines Stadtauto reicht. Gleichzeitig gibt es aber auch praktische Probleme, weil die Fahrzeuge dort abgegeben werden müssen, wo sie ausgeliehen wurden. Wer also am Nachmittag oder Abend vom Büro in Stuttgart nach Göppingen fährt und in Esslingen wohnt, muss entweder zuerst wieder nach Stuttgart zurück und dort den Leihwagen abgeben, um dann mit der Bahn nach Esslingen fahren. Oder das Auto muss über Nacht bezahlt werden, wenn es mitgenommen wird. Das ganze System braucht also mehr Planung, worin auch ein Vorteil liegen kann. Manche Fahrten sind vielleicht gar nicht notwendig, weil eine Videokonferenz reicht. Andere können zusammengelegt werden. Die Änderung bewirkt also auch eine systematischere Herangehensweise, weil das bekannte Gewohnheitsmuster so nicht mehr funktioniert und deshalb mehr kritisch hinterfragt wird. Aus ökologischer Sicht ist das ein großer Gewinn.

Und rechnet sich die Umstellung am Ende auch aus ökonomischer Sicht?

Julia Friedrich: 2024 wird das erste Jahr sein, in dem sich die Umstellung in unserem Haushalt widerspiegelt. Ich bin auf die Zahlen gespannt, rechne aber fest damit, dass die Umstellung auch ökonomisch sinnvoll ist. Immerhin haben wir zwei Dienstwagen zurückgegeben, die unter dem Strich einiges an Unterhalt kosten. Dazu sparen wir uns die Miete für die Tiefgaragenstellplätze. Was aber noch wichtiger ist: Die Umstellung auf Carsharing ist von allen Beteiligten sehr gut angenommen worden.

Die Wirkung nach innen ist also gelungen – welchen Beitrag zur Mobilitätswende kann der DGB nach außen leisten, hinein in die Gesellschaft?

Julia Friedrich: Aufgabe der Gewerkschaften ist, dafür zu sorgen, dass die Interessen und Ideen der Beschäftigten bei diesem Gestaltungsprozess ausreichend berücksichtigt werden. Dabei geht es etwa um konkrete Fragen wie: „Was darf mein Arbeitgeber über mich wissen?“, „Welche Maßnahmen werden daraus abgeleitet?“, „Wie viele Fahrradstellplätze brauchen wir?“, „Gibt es Regelungen für Homeoffice?“ und vieles mehr. Bei all diesen Themen darf und will der Betriebsrat mitreden. Gleichzeitig wollen wir als Gewerkschaft und politischer Akteur unsere Positionen auch in sämtlichen Gremien und politischen Diskussionen platzieren. Das setzt wiederum voraus, auf der Höhe der Zeit zu sein und die Möglichkeiten zu kennen, die mit den heutigen Innovationen verbunden sind. Um möglichst breit für das Thema zu sensibilisieren und umfassend zu informieren, haben wir im vergangenen Jahr unter anderem ein eigenes Seminar zum betrieblichen Mobilitätsmanagement angeboten.

Mit Erfolg?

Julia Friedrich: Mit großem Erfolg sogar. Es war ein tolles Seminar, an dem rund 40 Betriebs- und Personalrät:innen aus der gesamten Region und darüber hinaus teilgenommen haben. Der Bogen war dabei inhaltlich gespannt von den Klimaschutzzielen des Landes und dem Pendelaufkommen in der Region über Themen wie Arbeitgeberattraktivität und Gesundheitsförderung bis hin zu den verschiedenen Förder-programmen – immer mit dem Fokus, welche Rolle dabei die Betriebs- und Personalrät:innen spielen können. Gleichzeitig sind auch gute Beispiele aus der Praxis vorgestellt worden. Solche Erfolgsmodelle helfen oft am besten, Akzeptanz und Beteiligung zu schaffen. Wer mitmischen will bei der Mobilitätswende in den Unternehmen, der braucht dafür auch das Wissen, die notwendigen Kompetenzen und gute Argumente, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Viele Kolleginnen und Kollegen bei dem Seminar waren Feuer und Flamme. Ich bin daher sicher, dass über die Gewerkschaftsschiene ganz viele Impulse in den Betrieben ankommen werden.

Ein spürbarer Impuls aus den Reihen der Gewerkschaft war auch der Streik, mit dem zuletzt der ÖPNV lahmgelegt wurde – in Zeiten des Mobilitätswandels und in einer Region, die ohnehin unter dem Verkehr ächzt. Sind solche Streiks noch zeitgemäß?

Julia Friedrich: Sie sind jedenfalls Ausdruck dafür, dass es sich um ein gesellschaftspolitisch wichtiges Thema handelt. Wer den ÖPNV ausbauen will, muss vor allem dafür sorgen, dass es attraktive Stellen gibt, also Geld in die Hand nehmen. Der Beruf Busfahrer darf nicht weniger attraktiv sein als ein Arbeitsplatz in der Industrie. Sonst wird der demografische Wandel erhebliche Probleme mit sich bringen und die Mobilitätswende, die einen gut ausgebauten ÖPNV braucht, jäh ausbremsen. Schon jetzt gibt es beispielsweise bei der S-Bahn Personalmangel, was zu Fahrplanänderungen und Ausfällen führt. Bei manchen privaten Unternehmen musste erst durchgesetzt werden, dass den Fahrerinnen und Fahrern der Linienbusse die notwendigen Pausen als Arbeitszeit angerechnet werden. Die standen also mit ihrem Bus irgendwo in der Pampa und machten gewissenmaßen als Privatvergnügen 20 Minuten Pause. So etwas geht einfach nicht. Da müssen wir Politik und Verkehrsbetriebe in die Verantwortung nehmen. Streiks sind eine mögliche Reaktion darauf.

Kommt das bei den vielen Pendlerinnen und Pendlern so an?

Julia Friedrich: Also, ich selbst komme aus dem Remstal nach Stuttgart und bin daher auch betroffen, wenn die S-Bahnen nicht fahren. Es ist natürlich eine schwierige Situation für alle, die mit jedem weiteren Streiktag noch angespannter wird. Ich finde aber, dass es insgesamt ein sehr hohes Verständnis für die Streiks gibt. Viele Menschen sehen das durchaus differenziert und eben nicht nur aus der Sicht der Kunden. Die Solidarität ist trotz der persönlichen Nachteile hoch. Und letztlich liegt es ja auch im Interesse der Fahrgäste, dass der ÖPNV gut und zuverlässig funktioniert. Es muss im Nahverkehr spürbare Verbesserungen geben – sonst wird die Mobilitätswende nicht gelingen! Das ist schon lange eine der Kernbotschaften der Gewerkschaften Richtung Politik und Entscheidungsträger.

Wie sind Sie selber zur Gewerkschaft gekommen?

Julia Friedrich: Ich habe in Gießen Politikwissenschaften studiert und hatte schon dort Kontakt zu Gewerkschaften. Zu Schulzeiten habe ich mich als Schülervertreterin engagiert, während des Studiums war ich im AStA (Anm. d. Red.: Allgemeiner Studierendenausschuss) aktiv. Außerdem bin ich Kind einer Gewerkschafterfamilie. Der berufliche Weg in die Gewerkschaft war also irgendwie vorgegeben und fast zwangsläufig, jedenfalls naheliegend. Nach meinem Studium habe ich zunächst ein Traineeprogramm bei der IG Metall absolviert und in der Geschäftsstelle in Friedrichshafen gearbeitet. Danach bin ich der Liebe wegen nach Stuttgart gekommen und zum DGB gewechselt. 

Was sind die großen Themen der Zeit, die Ihre Arbeit hier beeinflussen?

Julia Friedrich: Letztlich gibt es aktuell drei große Themenblöcke: Zum einen die wirtschaftliche Transformation, also der Bereich Digitalisierung, Energiewende, Verkehrswende, weitergehende Globalisierung, völlig neue Wertschöpfungsketten und Produktionsprozesse. Dann haben wir natürlich die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen im Blick, dass es bezahlbaren Wohnraum, ausreichende Kinderbetreuung und Mobilität für alle gibt. Und nicht zuletzt spielt der gesellschaftliche Zusammenhalt eine immer wichtigere Rolle, allen voran der Kampf gegen Armut und den unverblümten Rechtspopulismus, der sich zunehmend breit macht in unserem Land. Der Zusammenhalt in unserer so offenen Gesellschaft scheint immer mehr zu bröckeln.

Viele Herausforderungen also, vor denen die Gewerkschaften in Zeiten multipler Krisen und großem Wandel stehen. Da ist Flexibilität gefragt – oder?

Julia Friedrich: Die Gesellschaft hat immer schon einen Wandel durchlaufen, entsprechend hat sich auch die Arbeit der Gewerkschaften immer wieder verändert. Wichtig ist, das Ohr dabei immer am Puls der Zeit zu haben. Denken Sie an die Gleitzeit, die anfangs sehr umstritten war bei Gewerkschaften, weil sie gegenüber einer festgelegten Arbeitszeit von 8 bis 16 Uhr als Entgrenzung verstanden wurde! Heute ist sie als flexible Regelung aus der Arbeitswelt nicht mehr wegzudenken und niemand würde auf sie verzichten wollen oder können, ich auch nicht. Zwischenzeitlich leben wir in einer Zeit, in der eher die Sinnhaftigkeit von Arbeit hinterfragt wird. Eine Neuerung ist beispielsweise das so genannte Wahlmodell, das schon mehrere Gewerkschaften in Tarifverträgen festgemacht haben. Dabei kann ein Teil des Entgelts in Form von freier Zeit genommen werden, wofür sich tatsächlich viele entscheiden. Es braucht also Antworten auf die Frage, wie Bedarfe und Bedürfnisse in Tarifverträge übersetzt werden können. Darin liegt die Herausforderung in Zeiten rasanter und tiefgreifender Umbrüche!

Zur PERSON:

Julia Friedrich, Regionalgeschäftsführerin beim DGB im Gespräch mit der WRS

Julia Friedrich arbeitet seit 2009 in verschiedenen Funktionen beim DGB in Stuttgart. Als pendelnde Gewerkschafterin sucht sie Wege, Mobilität sowohl bedarfsorientiert, als auch sozial und klimafreundlich zu gestalten. 


Das Interview führten Alexandra Bading (Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH) und Markus Heffner (Journalist und Redaktionsbüro) im Mai 2024.