„Wir müssen die Fahrgäste emotional mitnehmen!“

Im Gespräch mit Frank Schuster, Geschäftsführer und Vorstand der TRICON AG, Kirchentellinsfurt.

Der Designer Frank Schuster gestaltet mit seinem Partner Thomas König seit über 30 Jahren Schienenfahrzeuge aller Art, die überall auf der Welt Menschen transportieren. Auch die nächste Generation der Stuttgarter Stadtbahn, die schon vor der ersten Fahrt mit dem Internationalen Designpreis des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet wurde, trägt die Handschrift von Schusters Team. „Wenn wir die Mobilitätswende schaffen wollen, müssen wir Wohlfühlräume gestalten und die Fahrgäste emotional mitnehmen“, betont der TRICON-Chef im Interview.

Herr Schuster, wie muss ein Zug oder eine Stadtbahn aussehen, damit Sie gerne einsteigen?

Frank Schuster: Wenn ich eine Stadtbahn ganz nach meinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen designen würde, dann würde vermutlich nur ich selber gerne einsteigen – und vielleicht noch meine Tochter. Da sind wir nämlich schon an einem ganz wesentlichen Punkt: Ein öffentliches Verkehrsmittel muss ausnahmslos alle ansprechen, also für eine möglichst breite Zielgruppe gedacht werden. Das ist also anders als etwa bei einem Smartphone, das für einen ganz bestimmten Kundenkreis gestaltet wird. Es sollen ja später möglichst viele Menschen mitfahren.

Also gibt es keine Schuster-Bahn, die man schon von weitem erkennt?

Frank Schuster: Nein. Sie werden kein Schienenfahrzeug finden, an dem Sie die Designsprache von TRICON erkennen – die gibt es nämlich ganz bewusst nicht. Wir gestalten überall auf der Welt Bahnen und jedes dieser Projekte hat seinen ganz eigenen Charakter. Die Stuttgarter Stadtbahn würde beispielsweise nicht in Bern und noch nicht einmal in Hannover funktionieren. Und die Stadtbahn, die wir für die kanadische Metropole Calgary designt haben, könnte niemals erfolgreich in Katar fahren. Die Menschen dort würden sie einfach nicht annehmen.

Wonach entwickeln Sie dann das jeweilige Design? 

Frank Schuster: Am Anfang eines Designprozesses steht immer die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Kulturraum, mit dem wir es zu tun haben. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben zwar alle in Deutschland studiert, sie kommen aber aus sieben verschiedenen Ländern. Diese kulturelle Vielfalt hilft enorm bei diesem Prozess. Wir versuchen uns hineinzudenken in die Mentalität der Menschen, die Traditionen und kulturellen Bräuche, das Wertesystem, die Geschichte des Landes. Daraus entwickeln wir dann eine Story, eine Erzählung, die das jeweilige Design emotional trägt. Diese Herangehensweise ist, wenn Sie so wollen, das Markenzeichen von TRICON.

Könnten Sie ein Beispiel geben für dieses Storytelling auf Rädern?

Frank Schuster: Nehmen wir zum Beispiel die U-Bahn für die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar. Unser Auftraggeber war ein japanisches Unternehmen, der Kunde der Emir von Katar. Wir haben lange überlegt, was prägend ist für den arabischen Raum, was ihn ausmacht. Dabei sind wir schnell auf den Falken gekommen, der ein Symbol für Stärke, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit ist. In einigen arabischen Staaten ist der Falke ja auch Wappentier. Trotzdem waren wir nicht ganz zufrieden und haben weiterüberlegt, bis wir auf die weiße Stute gekommen sind, die stolze Vollblutaraber-Stute. Sie hat uns dann inspiriert für das Kopfdesign der Bahn und diese Story hat den Emir begeistert. Das macht auch klar, warum die Bahn in Calgary nicht funktionieren würde.

Welche Geschichte erzählen die Stadtbahnen dort?

Frank Schuster: Der Auftraggeber für die Stadtbahn in Calgary war Siemens Mobility mit Sitz in Sacramento (USA). In diesem Fall hatte sich relativ schnell das Thema Eishockey angeboten, Calgary gilt als heimliche Eishockey-Hauptstadt und das Thema findet sich überall in der Stadt. Aus diesem emotionalen Ansatz haben wir dann die Erzählung abgeleitet und das Gesicht des Zugs als symbolisierten Torwarthelm gestaltet. Wenn man sich damit beschäftigt, findet man überall eine Story, die emotional trägt und identitätsstiftend ist.

Auch in Stuttgart?

Frank Schuster: Selbstverständlich auch in der Landeshauptstadt Stuttgart, meiner Geburtsstadt übrigens, die vor allem auch durch ihre Architektur geprägt ist, dieser einzigartigen Mischung aus Tradition und Moderne – mit der Weißenhofsiedlung als gestalterischen Leuchtturm. Es gibt kaum eine Stadt, in der dieser Kontrast so greifbar ist. Im Zuge der Auseinandersetzung hatten wir insgesamt fünf verschiedene Entwürfe für die neue Generation der Stadtbahn entwickelt, teilweise basierend auf den Vorgängermodellen oder dem Thema Automotive, bei dem ein Mercedes-Truck Vorbild war. Entschieden haben wir uns dann aber für die Variante „Bauhaus“, die unserer Meinung nach am besten zur Stadt passt und für die horizontalen und vertikalen Architekturlinien steht. Wichtig war der SSB dabei auch, dass die neue Bahn ihre Vorgänger gewissermaßen nicht „alt“ aussehen lässt.

Erschließen sich den Fahrgästen diese vielen Überlegungen überhaupt, die hinter so einem Design stecken? Oder anders gefragt: Funktioniert eine solche Erzählung dahingehend, dass die Zahlen im öffentlichen Nahverkehr steigen – was ja dringend notwendig wäre angesichts der ambitionierten Ziele und Vorgaben.

Frank Schuster: Dass die Ansprache auf emotionaler Ebene funktioniert, sieht man in anderen Ländern, beispielsweise in der Schweiz. Das orangefarbene „Mandarinli“, also die Regionalzüge zwischen Solothurn und Bern, haben regelrechten Kultstatus erlangt und werden heiß und innig geliebt. Die Menschen dort haben ein ganz anderes Verhältnis zur Bahn und werden von den Betreibern der Linien bei Planungen auch miteingebunden. Da sind wir hier in Deutschland noch Lichtjahre entfernt. Wir haben den Nachfolger vom „Mandarinli“ designt, den „Worbla“. Das Pflichtenheft dafür wurde zusammen mit den Fahrgästen entworfen, der Name in einer öffentlichen Abstimmung gefunden. Und auch in die Produktion wurden die Fahrgäste von Beginn an einbezogen. Wir hatten beispielsweise bei der Innenraumgestaltung, die natürlich überaus wichtig ist für die Wohlfühlatmosphäre, Teppichboden als Belag ausgeschlossen. Es ist ja schließlich „nur“ eine S-Bahn… Der Wunsch war aber: Auf jeden Fall wollen wir Teppichboden! So ist das halt in der Schweiz. Dort dürfen und sollen die Fahrgäste auch im Zug essen, was immer sie wollen. Dafür sind sie stolz auf ihre Bahn und sprechen von „meinem Worbla“. China entwickelt sich teilweise ganz ähnlich. Genau dorthin müssen wir bei uns auch kommen.

Warum sind die Deutschen nicht so stolz auf ihre Bahn – von den vielen Verspätungen mal abgesehen?

Frank Schuster: Das war auch schon anders. Früher, und damit meine ich die Zeit vor den 1990er Jahren, hat man allenfalls verschämt zugegeben, mit dem Zug gekommen zu sein. Die Bahn hatte ein Schmuddelimage. Das änderte sich Mitte 1991 dann fundamental, als der erste ICE vorgestellt wurde und in Deutschland damit das Hochgeschwindigkeitszeitalter begann. Der ICE wurde zum Inbegriff für hohe Geschwindigkeiten, kurze Reisezeiten, größtmöglichen Komfort und moderne Fahrzeugausstattung – und die Menschen waren stolz darauf! Ich kann mich noch gut erinnern, wie voll der Stuttgarter Hauptbahnhof damals war, als der erste weiße Intercity-Express eingefahren ist. Allerdings wurde dieser Drive, diese Stimmung in die weitere Mobilitätsentwicklung und in die heutige Zeit leider nicht mitgenommen. Stattdessen wurde die Infrastruktur vernachlässigt, wahrscheinlich weil damals Geld für den angestrebten Börsengang gespart werden musste.

Lässt sich diese Begeisterung von damals wiederbeleben?

Frank Schuster: Zunächst einmal tickt die „Bahn-Branche“ in Deutschland einfach anders als in Ländern wie China, der Schweiz oder auch Frankreich. Wir sind hier eher konservativ eingestellt, da gibt es also noch viel Luft nach oben. Und die ständigen Diskussionen und Berichte um die marode Infrastruktur der Bahn sind natürlich auch nicht gerade hilfreich. Viele Städte und Regionen setzen wunderbare Nahverkehrsprojekte um, was im allgemeinen Bahn-Bashing oft untergeht. Andererseits müssen wir wahrnehmen, dass sich die Bevölkerung auch oft gegen ÖPNV-Projekte entscheidet, wie z.B. in Tübingen, Wiesbaden. Regensburg… um nur ein paar zu nennen. Natürlich hat das auch was mit dem Image des Systems zu tun. Wo wir aber ansetzen können und müssen, ist das Thema Vergabe. Deutschland ist mit Abstand das einzige Land, in dem bei 92 von hundert Ausschreibungen von Schienenfahrzeugen ausschließlich der Preis entscheidet. In Frankreich ist das zum Vergleich nur bei 14 von 100 Ausschreibungen der Fall. Dort entscheiden beispielsweise auch Kriterien wie Innovationskraft, Kundenorientierung, Fahrgastbedürfnisse, Lebenszyklen und vieles mehr. Dahin müssen wir auch kommen und in der aktuellen Studie „Moderne öffentliche Vergabe in der Bahnindustrie“ wird dieser Ansatz auch aufgenommen. Wir brauchen eine Mobilitätsrevolution, angetrieben durch neue, moderne Vergabeverfahren, die zeitgemäß sind und alle relevanten Aspekte berücksichtigen – und eben nicht nur die Kosten!

Dann könnten sich auch die Designer austoben, wenn die Kosten keine Rolle mehr spielen….

Frank Schuster: Das hören wir natürlich immer wieder, aber bei Schienenfahrzeugen sind die Gestaltungsmöglichkeiten naturgemäß eingeschränkt durch die Technik, die im Vordergrund steht. Daher sind wir auch immer in sehr engem Austausch mit den Ingenieuren. Für den Komfort der Fahrgäste und das Wohlfühlen sind letztlich die Innenräume relevant – und die machen nur einen Bruchteil der Gesamtkosten eines Fahrzeugs aus! Oberste Priorität in den Ausschreibungen hat meist die Vorgabe, möglichst viele Sitzplätze unterzubringen, also auf Volllast zu fahren. Aber auch das ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen die Räume komplett neu denken, also bedarfsorientierte Innenräume schaffen, in denen es Nischen mit Stehhilfen gibt und ausreichend Platz für Räder, Kinderwagen und Rollstühle! Schließlich gestalten wir das Produkt Schienenfahrzeug ja für die Fahrgäste. Solche Stehnischen haben wir beispielsweise auch in den neuen Stuttgarter Stadtbahnen geschaffen.

Stuttgart ist Ihre Heimatstadt, für die Sie nun die neue Generation an Stadtbahnen designt haben. Ist damit auch eine Art Kindheitstraum in Erfüllung gegangen?  

Frank Schuster: Es ist natürlich immer etwas Besonderes, in seiner Stadt etwas zu schaffen, das viele Menschen bewegen wird. Wir verantworten zudem ja auch das landesweit einheitliche Fahrzeugdesign der neuen Mobilitätsmarke „bwegt“. Zum Dreiklang fehlt uns nun noch die Stuttgarter S-Bahn, die in absehbarer Zeit neue Fahrzeuge ausschreiben wird. Und wir würden uns wirklich sehr gerne Gedanken darüber machen, wie diese Fahrzeuge aussehen sollen und wie es sich anfühlt, mit ihnen morgens zur Arbeit oder abends in die Stadt zu fahren!

Zur PERSON

Frank Schuster, in seinem Studio in Kirchentellinsfurt ©SSB


Das Gespräch führten Alexandra Bading (Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH) und Markus Heffner (Journalist und Redaktionsbüro) im November 2024.