„Wer den ÖPNV nutzt, hat immer die beste Klimabilanz!“

Bis 2030 sollen die Fahrgastzahlen im ÖPNV verdoppelt werden. Gleichzeitig hat sich die Bundesregierung mit der Umsetzung der EU-Richtlinie „Clean Vehicle Directive“ zu einem stufenweisen klimaneutralen Umbau der Busflotten verpflichtet. Angeschafft werden müssen die sauberen und emissionsfreien Fahrzeuge von den kommunalen Aufgabenträgern.

Thomas Hachenberger ist Geschäftsführer beim Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS).

Wir beleuchten in einer Interview-Reihe, wie und wo Konzepte für Elektromobilität in der Region Stuttgart aktuell umgesetzt werden. Im Gespräch mit der WRS erklärt VVS-Geschäftsführer Thomas Hachenberger, wie der ÖPNV die letzten beiden Krisenjahre überstanden hat und welche Rolle er in Zukunft spielen kann.

Herr Hachenberger, das 9-Euro-Ticket ist in aller Munde. Bundesverkehrsminister Volker Wissing nennt es einen großen Feldversuch. Was denken Sie, wie dieser Versuch ausgehen wird?

Der Bund hat ja angesichts der Preissteigerungen in vielen Bereichen ein umfangreiches Entlastungsgesetz verabschiedet, das 9-Euro-Ticket ist dabei nur ein Teil davon. Unter anderem sollen ab Juni über eine Steuersenkung auch die Spritpreise wieder günstiger werden, wovon die Autofahrer profitieren. Aber auch die Nutzer von Bussen und Bahnen sollen eben richtigerweise entlastet werden. Es gibt auf jeden Fall jetzt schon ein riesiges Interesse in der Bevölkerung, das Ticket und damit den ÖPNV öfter auszuprobieren.

Haben Sie keine Sorge vor übervollen Bahnen, Bussen und Zügen?

Wir haben aktuell das höchste Verkehrsangebot in der Verbundgeschichte. Die S-Bahnen fahren beispielsweise an Samstagen fast den ganzen Tag im 15-Minuten-Takt. Bei der momentanen Nachfrage und Auslastung liegen wir zudem noch weit hinter der Vor-Corona-Zeit zurück. Auf Strecken mit touristisch interessanten Zielen wird es aber voraussichtlich dennoch teilweise beengt zugehen in den Fahrzeugen. Kurzfristig zusätzliche Kapazitäten bereitzustellen wird aber leider in vielen Fällen nicht möglich sein.

Aktuell streiten der Bund und die Länder noch um die Finanzierung, dabei geht es auch um die geforderte Erstattung für Bestandskunden. Was passiert wohl nach der dreimonatigen Aktion, wenn das schöne Sonderangebot wieder abgeschafft wird?

Unsere Stammkunden, die uns während der Corona-Krise gestützt haben, werden selbstverständlich auch in den Genuss des 9-Euro-Tickets kommen, das war uns sehr wichtig. Dass es nach den drei Monaten so kostengünstig weitergehen wird, kann ich natürlich nicht versprechen. In jedem Fall werden wir aber Interessierten, die ins Abo einsteigen wollen, gute Angebote machen und auch intensiv um sie werben. Gerade mit Blick auf die Kosten ist der ÖPNV gegenüber dem Auto ohnehin mehr als konkurrenz-fähig. Dazu kommt als echter Mehrwert und persönlicher Benefit noch das gute Gewissen und die Gewissheit, klimafreundlich unterwegs zu sein.

Die Corona-Pandemie hat in den vergangenen beiden Jahren leider zu einer Art Vollbremsung im klimafreundlichen Nahverkehr geführt. Wo steht der VVS heute?

Nach zwei schwierigen Jahren geht der Trend wieder eindeutig aufwärts. Die Bilanz von 2021 weist bereits wieder 20 Millionen Fahrten mehr aus als noch 2020, das ist eine Steigerung um fast neun Prozent und damit auf jeden Fall ein Lichtblick. Unser Benchmark ist aber das Jahr 2019 mit insgesamt fast 400 Millionen Fahrgästen und da liegen wir noch ziemlich weit zurück, rund 134 Mio. Fahrten fehlen noch. Ich hoffe und glaube aber fest daran, dass wir bis Ende 2024 wieder auf diesem Stand sein können.

Als eine der Errungenschaften aus der Pandemiezeit gilt das Homeoffice. Ist das ein Reizwort für den Geschäftsführer eines Verkehrsverbundes?

Es ist auf jeden Fall ein Thema, das uns sehr umgetrieben hat und weiterhin bewegt. Der Trend zum Homeoffice ist aber nicht alleine verantwortlich für die Einbrüche. Es haben auch die Events gefehlt, die Fahrten zum Wasen, zum Weindorf und Weihnachtsmarkt, zu den Messen oder zum VfB. Dazu hat natürlich das Thema Sicherheit eine große Rolle gespielt. Viele Menschen waren verunsichert und hatten schlicht Angst, sich in der Bahn anzustecken. Selbst die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte damals ja dazu aufgerufen, den ÖPNV zu meiden. Wir haben sehr viel dafür unternommen, die Sicherheit unserer Fahrgäste zu gewährleisten – von der Optimierung der Klimaanlagen über das automatisierte Türöffnen an allen Haltestellen bis zum regelmäßigen Reinigen der Geländer an den Haltestellen und allem Inventar, das angefasst werden kann. Eine wichtige Erkenntnis dabei war, dass wir so gut wie keine Ausfälle durch Ansteckungen bei unserem Personal hatten. Inzwischen haben auch weltweite Studien, unter anderem eine vom VDV beauftragte Studie der Charite Berlin, die vermutete hohe Infektionsgefahr im ÖPNV widerlegt. Der öffentliche Nahverkehr ist auch in Coronazeiten – auch dank der Maskenpflicht – sehr viel sicherer, als viele Menschen denken. Oder anders gesagt: Der Nahverkehr ist und war kein Pandemietreiber.

Trotz aller Rückschläge wurde das Ziel festgeschrieben, im Zuge des Klimaschutzes die Fahrtgastzahlen im ÖPNV bis 2030 zu verdoppeln. Ist das nicht illusorisch angesichts der ganzen Umstände?

Es ist auf jeden Fall ein ambitioniertes Vorhaben. In der ÖPNV-Strategie des Landes für 2030 wurden mehr als 130 Maßnahmen in zehn relevanten Handlungsfeldern des öffentlichen Verkehrs definiert, die im Ergebnis eine solche Verdoppelung erbringen sollen. Eine der zentralen Maßnahmen dabei ist – neben einer besseren Vernetzung und einem Vorrang für den ÖPNV – die Mobilitätsgarantie, die als verlässliches Angebot von fünf bis 24 Uhr sowohl in der Stadt als auch im ländlichen Raum in einer bestimmten Taktung gelten soll. Im Ballungsraum mindestens alle 15 Minuten, auf dem Land alle 30 Minuten. Mit solch einem verlässlichen Angebot sollen Anreize geschaffen werden, vom Auto auf Bus und Bahn als nahezu vollwertige Alternative umzusteigen.

Mit den vorhandenen Kapazitäten dürfte ein solcher Ausbau des Angebots aber kaum zu schaffen sein. Wer bezahlt dafür?

Die grün-schwarze Landesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, sich mit zusätzlichen Landesmitteln an der Finanzierung der ÖPNV-Offensive zu beteiligen. Denn eines ist klar: Wenn es eine Mobilitätsgarantie geben soll, muss auch jemand dafür aufkommen. Die Mehrkosten belaufen sich Schätzungen zufolge landesweit auf rund 500 bis 600 Millionen Euro im Jahr, wobei es je nach Region ganz unterschiedlichen Bedarf gibt. Im Bereich der SSB kann eine Mobilitätsgarantie noch am ehesten mit den vorhandenen Bordmitteln und der gut ausgebauten Infrastruktur gestemmt werden. In ländlichen Regionen braucht es dagegen viele Lückenschlüsse, die enorme Kosten verursachen. Ein Ausbau der Schiene ist aufgrund des langen Vorlaufs kaum möglich. Bleibt im Grunde also nur der Bus als Mittel der Wahl – in den so genannten Schwachverkehrszeiten als On-Demand-Angebot.

In der Region Stuttgart werden zumindest bisher die allermeisten Linienbusse von einem Dieselmotor angetrieben. Wie verträgt sich das mit dem Ziel eines klimaneutralen ÖPNV?

Umweltfreundliche Antriebe sind natürlich auch bei uns ein wichtiges Thema. Zunächst einmal muss man aber festhalten, dass der Anteil des gesamten ÖPNV an den verkehrsbedingten Emissionen bei lediglich zwei Prozent liegt. Zudem hat sich die Dieseltechnologie noch einmal weiterentwickelt und die neuesten Motoren mit Euro-6-Norm halten die strengsten Grenzwerte ein, der Ausstoß ist im Vergleich zu früher deutlich reduziert. In der Fläche werden wir diesen Antrieb als Brückentechnologie noch einige Zeit brauchen, auch über das Jahr 2030 hinaus. Anders ist die Situation in den Ballungszentren und Innenstädten. Dort machen Busse mit Elektroantrieb oder Brennstoffzelle absolut Sinn, weil hier Themen wie Lärm oder Luftreinhaltung eine andere Rolle spielen. Im städtischen Bereich laufen daher seit einiger Zeit immer wieder viele Pilotprojekte und Versuche mit umweltfreundlichen Antrieben.

Und was spricht dagegen, möglichst schnell überall emissionsfreie Busse einzusetzen?

Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Ein Elektrobus ist um rund 80 Prozent teurer als ein Dieselbus, diese Mehrkosten müssen finanziert werden. Das gilt im Übrigen für die ganzen Klimaschutzziele im Bereich des ÖPNV, die in Baden-Württemberg sehr ambitioniert sind. Die Frage ist, wer dafür aufkommen wird. An die Fahrgäste können die Kosten nicht weitergereicht werden. Für sie zählen in erster Linie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Ein umweltfreundlicher Antrieb ist für die wenigsten ein Argument, in einen Bus zu steigen. Ein weiteres Problem ist die Reichweite. Auf manchen Linien legen die Busse 400 Kilometer am Tag zurück, ein Elektrobus schafft zurzeit meist nicht einmal die Hälfte mit einer Ladung. Wenn man dann deshalb zwei Busse auf einer Linie einsetzen muss, verdoppeln sich die Kosten. Gleichzeitig ist die Industrie noch gar nicht so weit, Elektrobusse in solch hoher Stückzahl zu produzieren. Der VVS als sechstgrößter Verkehrsverbund in Deutschland würde alleine rund 1.800 solcher Fahrzeuge benötigen. Der Umbau unserer Busflotte muss daher gut überlegt und zusammen mit der Lade-infrastruktur geplant werden, im Hauruckverfahren ist das nicht machbar.

Allerdings hat die EU das Tempo beim Umstieg auf umweltfreundliche Busse mit ihrer Richtlinie Clean-Vehicle-Directive deutlich verschärft – und die Bundesregierung hat sich zur Umsetzung verpflichtet. Was bedeutet das genau?

Die CVD-Richtlinie gibt seit August 2021 öffentlichen Auftraggebern die gesetzlichen Quoten für die Beschaffung klimafreundlicher Fahrzeuge vor. Für die Umsetzung gibt es ein Zwei-Stufen-Programm. Bis 2025 muss der Anteil an sauberen und emissionsfreien Fahrzeugen 45 Prozent vom Gesamtvolumen der ausgeschriebenen Neufahrzeuge betragen, bis 2030 sind es dann 75 Prozent. Unter emissionsfreien Fahrzeugen laufen Elektrobusse oder Wasserstoffbusse, die unter anderem auch schon in Stuttgart erfolgreich in einem Modellprojekt im Einsatz waren. Die Vorgabe „sauber“ ist beispielsweise erfüllt, wenn ein Bus mit synthetischem Kraftstoff betankt wird. Dieser wird künstlich aus Erdgas durch Zufuhr von Sauerstoff und Wasserdampf hergestellt, was beim Fahren zu einer deutlichen Reduktion der Emission von Stickoxiden und der Rußbelastung führt. Die SSB hat daher bereits ihre gesamte Busflotte als Zwischenschritt auf synthetischen Kraftstoff umgestellt und hat das Ziel bis 2027 in der Stuttgarter Innenstadt komplett emissionsfrei zu fahren.

Womit Stuttgart dann die Vorzeigekommune in Sachen nachhaltiger ÖPNV wäre?

In der Region Stuttgart gibt es einige Kommunen und Verkehrsbetriebe, die sich schon lange mit dem Thema beschäftigen und schon viel erreicht haben. Die Ludwigsburger Verkehrslinien beispielsweise betreiben mit 50 elektrisch betriebenen Bussen die größte Hybridflotte in der Region. In Waiblingen sind auf den Citystrecken schon Elektrobusse unterwegs. Nicht zu vergessen, der rein elektrisch fahrende Esslinger Oberleitungs-Hybrid-Bus, der gerade im Rahmen eines Förderprojekts des Bundes nochmals Mittel erhält und heute zu den letzten drei Oberleitungsbus-Systemen in Deutschland gehört. Aus heutiger Sicht ist der hybride Obus ein echter Glücksfall und zeigt, wie wichtig gezielte Förderprogramme für Modellprojekte sind. Derzeit enden die Fahrdrähte in Obertürkheim, die Strecke soll aber bis Untertürkheim verlängert werden. Gleichzeitig will die Landeshauptstadt in einer Studie untersuchen, ob ein solcher Oberleitungsbetrieb auch in Stuttgart teilweise realisiert werden könnte. Gerade in Verbindung mit Elektroantrieb ist der Wirkungsgrad enorm, weil der Bus die letzte Strecke ins Wohngebiet mit der Batterie fahren und diese hinterher wieder über die Oberleitung aufladen kann. Ein Obus ist also flexibler, als man denkt.

Flexibilität ist auch mit Blick auf die VVS-Angebote das Gebot der Stunde. Wer nur noch zwei- oder dreimal in der Woche ins Büro geht, fährt mit dem klassischen Monatsabo nicht sonderlich rentabel …

Das ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass wir bis August 2021 fast 20 Prozent unserer treuesten Kundinnen und Kunden verloren haben, insgesamt knapp 33.000 der ehemals 227.000 Abonnenten aus der Zeit vor Corona. Das ist eine Zäsur für uns, weil wir die Abokunden für die Grundversorgung brauchen. Wir haben daher schon zum 1. April 2021 versucht, mit unserem 10er-Tages-Ticket für Gelegenheitsfahrer gegenzusteuern. Bisher wurden davon 30.000 verkauft, was uns zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir sehen das als einen Zwischenschritt zu einem flexiblen Abo an, das auch in Richtung Freizeitverkehr zielt. In diesem Bereich, der insgesamt immerhin 40 bis 45 Prozent am Gesamtverkehr ausmacht, wollen wir die Anteile weiter ausbauen. Und dann wird ja noch das 365-Euro-Jugendticket kommen, ein sehr attraktives Angebot, das in ganz BW in allen 21 Verkehrsverbünden gelten wird. Das wird sicherlich auch für weitere Zuwächse sorgen und die Auslastung der Busse und Bahnen wieder erhöhen.

Also sehen Sie den Nahverkehr gut gerüstet für eine klimafreundliche Zukunft?

Wer den ÖPNV nutzt, hat dabei immer die beste Klimabilanz. Auch im Vergleich zu einem Elektroauto. Wenn 20 Fahrgäste mit einem normalen Gelenkbus unterwegs sind, verbraucht jeder umgerechnet zwei Liter Sprit. Je mehr Fahrgäste mitfahren, desto besser wird diese Bilanz. Und das Gute daran ist: Jeder kann sofort mitmachen und seinen Beitrag zum Klimaschutz leisten!

ZUR PERSON

Thomas Hachenberger ist studierter Betriebswirt und seit 2004 als Geschäftsführer des Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart (VVS) zuständig für Finanzen, Planung und die Einnahmenaufteilung. Im Ehrenamt ist er Vorstandssprecher der Verbünde in Baden-Württemberg und engagiert sich als Mitglied im Präsidium des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV).

Der Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS)

Der Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) koordiniert den öffentlichen Personen-nahverkehr in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart sowie in den Landkreisen Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg, Rems-Murr und Göppingen. Das Verbundgebiet umfasst rund 3.700 Quadratkilometer Fläche und 2,8 Millionen Einwohner.

INFOKASTEN 9-Euro-Ticket

Das 9-Euro-Ticket soll in der Zeit vom 1. Juni bis 31. August 2022 für jeweils einen Kalendermonat nicht nur im Verbundgebiet des VVS gelten, sondern im Nahverkehr in ganz Deutschland. Dazu zählen Straßen- und Stadtbahnen, U- und S-Bahnen, Stadt- und Regionalbusse und Regionalzüge (RB, RE, IRE). Das Ticket kann ab Ende Mai gekauft werden und ist auch über die VVS-App erhältlich. Auch VVS-Abonnenten sowie Inhaber*innen von Jahres- oder Semestertickets werden von dem günstigen Preis und der bundesweiten Gültigkeit profitieren. Alle, die bereits ein Abo, Jahresticket oder StudiTicket haben, fahren in den drei Monaten ebenfalls für 9 Euro im Monat. Weitere Infos unter vvs.de/9-Euro-Ticket.

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Das Interview führten Alexandra Bading (Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH) und Markus Heffner (Journalist und Redaktionsbüro) im April 2022.