Können neue Arbeitsformen wie Homeoffice das Mobilitätsverhalten nachhaltig ändern und damit den Berufsverkehr in Ballungsräumen entlasten? Mit dieser Frage befasst sich das Forschungsprojekt VENAMO unter Federführung der Zeppelin Universität.
„Die kollektive Erfahrung mit der Corona-Krise wirkt als Katalysator für die Transformation“, sagt Matthias Wörlen vom Lehrstuhl für Sozioökonomik, der das Projekt wissenschaftlich begleitet.
Das Interview führten Alexandra Bading von der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH und Markus Heffner, freier Autor und Journalist, online im August 2021.
Herr Wörlen, Homeoffice und flexible Arbeitszeiten in der Corona-Pandemie haben zumindest bei manchen Unternehmen einen Bewusstseinswandel ausgelöst. Hat es die Krise gebraucht, um zu erkennen, dass Verkehr und Umwelt durch neue Arbeitsformen erheblich entlastet werden können?
Die Krise hat das Thema auf jeden Fall ganz gehörig gepusht. Wir haben unser Forschungsprojekt VENAMO vor zwei Jahren mit der Annahme entwickelt, dass es in diesem Bereich Potenziale gibt und man mehr machen könnte. Corona hat diese Annahme bestätigt. In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, welche Potenziale Homeoffice bietet. Ob damit auch stabile Verkehrseinspareffekte verbunden sind und welche das sein könnten, wird sich wohl erst zeigen, wenn wir aus der Krise wieder in den Normalmodus kommen. Derzeit können die Verkehrswissenschaftler nur Vermutungen anstellen. Das Homeoffice wird uns auf jeden Fall erhalten bleiben. Die Frage ist nur, in welchem Umfang. Wir haben die kollektive Erfahrung gemacht, dass man in der eigenen Wohnung arbeiten, konferieren und alles andere machen kann. Diese kollektive Erfahrung wirkt nun als Katalysator für die Transformation. Also ja: Ohne die Corona-Krise wäre das alles nicht so schnell gegangen.
VENAMO steht für „Verkehrsentlastung durch neue Arbeitsformen und Mobilitätstechnologien“ – in welche Richtung forschen Sie konkret?
An dem Forschungsprojekt sind mehrere Partner*innen beteiligt, unsere Rolle dabei ist der arbeitswissenschaftliche Part. Wir gehen unter anderem der Frage nach, welche Möglichkeiten die verschiedenen Arten von Tätigkeiten bieten, um Arbeit räumlich und zeitlich flexibel zu gestalten. Um das beurteilen zu können, müssen wir uns zunächst mit den Lebenswelten der Beschäftigten auseinandersetzen. Ob jemand im Homeoffice arbeiten kann, hängt beispielsweise von den Räumlichkeiten der eigenen Wohnung ab, von den vorhandenen Potenzialen also. Und wir beschäftigen uns mit den betrieblichen Strukturen: welche Betriebsvereinbarungen gibt es? Welche Führungsstrukturen wurden und werden dort kultiviert? Wir denken, dass wir in zweieinhalb Jahren konkret bestimmen können, welche Potenziale man besser nutzen könnte, um Arbeit so zu gestalten, dass dabei weniger Verkehr entsteht.
Was für Potenziale könnten das sein?
Die Frage ist, in welchen Anteilen sich die Arbeit von der klassischen Form lösen lässt. Es gibt zwischenzeitlich ja ganz unterschiedliche Modelle: Mobiles Arbeiten von unterwegs, Telearbeit, Homeoffice, Co-Working und so weiter. Denkbar ist beispielsweise, nur zu Kernarbeitszeiten in den Betrieb zu gehen und so dem Stau im Berufsverkehr zu entgehen.
Welche Innovationen an der Form des Arbeitens möglich sind, hängt natürlich ganz wesentlich von der Art der Tätigkeit – ihren Inhalten, Gegenständen und Kernprozessen – ab. Ein klassischer, industrieller Produktionsarbeitsplatz bietet offensichtlich wenige Möglichkeiten zur raum-zeitlichen Flexibilisierung. Ähnlich schaut es aus im Pflegebereich, bei Erziehung und Bildung und im stationären Einzelhandel. Aber schon im stationären Kundenberatungsgeschäft – z.B. in den Filialen von Banken und Versicherungen – zeigen unsere Befragungen, dass trotz klarer Präsenznotwendigkeiten einzelne Arbeitsprozesse geclustert und ins Homeoffice verlegt werden können, wenn dies von Seiten der Betriebe erwünscht und gefördert wird. Andere Bereiche wissensintensiver Wertschöpfung sind schon quasi vollständig losgelöst von raum-zeitlichen Bindungen. Da kommt es dann auf der Ebene der Umsetzung nur noch auf funktionierendes Internet an. Und ja, das Klischee stimmt: Wir haben bei unseren Interviews tatsächlich immer wieder Personen, die ihren Arbeitsplatz in Absprache mit der direkten Führungskraft in die spanische Finca verlegt haben. In diesem Bereich der Arbeit – im virtuellen Wissensraum – gibt es dann allerdings auch noch Herausforderungen. Stichwörter sind hier Datenschutz, gesunde Telearbeit, online Führen, betriebliche Vertrauenskultur, Hybridisierung von Kooperation.
Wir stehen der Vielzahl von Wegen der raum-zeitlichen Organisation von Arbeit – gerade im Zuge von Corona – offen gegenüber und sammeln die verschiedenen Erfahrungen ein. Darauf aufbauend systematisieren wir die Beobachtungen, um zu analysieren, inwieweit Veränderungen für welche Erwerbspersonen-Gruppe möglich sind, welche Potenziale im flexiblen Arbeiten liegen und welche Verkehrseinsparungen durch deren Abrufung möglich wären. Diese Zusammenhänge zu erkennen, steht im Zentrum des Projekts.
Wie gehen Sie dabei vor, also wie ist das Projektdesign?
Wir arbeiten sehr eng mit den Verkehrsforschern*innen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zusammen. Deren kleinräumige Modelle zur aktuellen Verkehrsnachfrage sind die Grundlage. Wir können dort beispielsweise Veränderungen im Hinblick auf Arbeitsort und Mobilität der Beschäftigten einspeisen und beobachten, wie sich das aktuelle Verkehrsverhalten ändert, wenn sich bestimmte Faktoren ändern. Ausgangspunkt ist die Bestimmung des Potenzials zu raum-zeitlich flexiblem Arbeiten in unterschiedlichen Erwerbspersonengruppen. In Abhängigkeit von der Tätigkeit, aber auch von sozio-ökonomischen Faktoren, den Zugängen zu Verkehrsangeboten und der Wohnsituation können diese Potenziale mehr oder weniger abgerufen werden. Dies hat dann Einfluss auf die Verkehrsnachfrage, also die Frage, wie viele Personen wann welche Verkehrsnetze – Straßen, ÖPNV, etc. – nutzen wollen. Wenn wir fundierte Annahmen haben, wie sich die arbeitsbedingte Verkehrsnachfrage ändert, können wir Rückschlüsse ziehen, wie sich der Verkehr in Metropolen wie Stuttgart insgesamt verändert. Wir arbeiten also daran, verschiedene Szenarien zur Nutzung des Potenzials raum-zeitlich flexiblen Arbeitens zu entwickeln, um zu bestimmen, wie sich eine daraus resultierende, veränderte arbeitsbedingte Verkehrsnachfrage auswirkt und welche Potenziale zur Entlastung der Verkehrssysteme sich daraus ergeben. Das hört sich jetzt vielleicht etwas kompliziert an. Das liegt aber vor allem am Wording. Am Ende geht es um recht einfache Fragen: Z.B. wie kann eine stärkere Nutzung von Homeoffice dazu beitragen, ein Verkehrssystem in einer Metropole zu entlasten?
Und wie soll die Transformation in die Praxis gelingen, also das konkrete Umsetzen der Erkenntnisse?
Zunächst einmal wollen wir wie gesagt wissen, welches Potenzial zur Verkehrsentlastung in urbanen Räumen besteht, wenn wir neue Formen der Arbeitsmobilität besser nutzen. Daran anschließend gilt es dann in einem zweiten Schritt, Wege aufzuzeigen und Instrumente anzubieten, wie man diesen Wandel der Arbeitsmobilität fördern kann. Dazu müssen wir etwa am Beispiel einzelner Verkehrsbrennpunkte aufzeigen, was mit einer derartigen Verkehrsentlastung gewonnen wäre. Das können wir am Lehrstuhl für Sozioökonomik natürlich nicht alleine leisten. Daher haben wir einen großen und transdisziplinären Forschungsverbund gebildet. Gerade das Team vom Institut für Verkehrswesen am KIT spielt eine zentrale Rolle, da nur durch deren verkehrsanalytische Kompetenz geklärt werden kann, wie sich eine Veränderung der Arbeitsmobilität wirklich als Verkehrseffekt niederschlägt. Und wir haben mit dem Zentrum für interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) einen Partner im Verbund, der sehr praxisorientiert ist und viel Erfahrung mit verschiedenen Anwendungs- und Beteiligungsformaten hat. Nicht zuletzt sind wir natürlich auch auf die Unterstützung und Mitarbeit von Unternehmen und Kommunen angewiesen, die uns die Daten und Informationen liefern und mit uns an neuen Lösungen arbeiten wollen.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Kommunen und Unternehmen?
Wir haben dafür ein stark gestaffeltes empirisches Design entwickelt. In der ersten Phase arbeiten wir sehr stark mit Partnerunternehmen. Wir konnten insgesamt sechs Unternehmen gewinnen, einschließlich kommunaler Verwaltungen, bei denen wir diese Potenzialgruppen bestimmen wollen. Mit der Balluff GmbH haben wir beispielsweise ein Unternehmen an Bord, das bereit ist, neue Arbeits- und Mobilitätsformen auszuprobieren. Und mit dem Verband Region Stuttgart und der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH haben wir tolle Partner, die bereits vor Projektstart eine Reihe wichtiger Unternehmen und Kommunen für VENAMO begeistert haben. Da sind wir wirklich sehr gut aufgestellt. Darauf aufbauend schließt sich dann eine Unternehmensbefragung an, um abzufragen, inwieweit die Personengruppen, die wir bestimmt haben, in der Belegschaft vertreten sind. Wir erheben also die Verbreitung der Potenzialgruppen in 400 – 600 Unternehmen, wobei wir die Größe, die Branche und die Lage dieser Unternehmen bei der Auswahl und der Auswertung berücksichtigen. Darauf aufbauend leiten wir eine Schätzung für das in der Region Stuttgart veranlagte Potenzial zu raum-zeitlicher Flexibilisierung von Arbeit ab. Zugleich berücksichtigen wir hier aber auch, welche Verkehrsmittel üblicherweise von den Erwerbspersonen genutzt werden und – je nach Lage, Anbindung und Arbeitsanforderung – welche Alternativen zum Auto bereits genutzt werden oder mit vertretbarem Aufwand nutzbar erscheinen.
Was sind die Motive der Unternehmen, Homeoffice zu ermöglichen? Haben sie das flexible Arbeiten als Beitrag zum betrieblichen Mobilitätsmanagement und einer Nachhaltigkeitsstrategie verinnerlicht oder wollen sie nur teure Büroflächen einsparen?
Mit unterschiedlicher Gewichtung findet sich sicher die ganze Palette an Motiven in der Arbeitswelt. In manchen Unternehmen ist Homeoffice noch immer ein heißes Eisen, oft gibt es noch keine Strategie und viele Widerstände im Unternehmen. Von Zuhause aus zu arbeiten passt mitunter einfach nicht in die Unternehmenskultur. Viele glauben, dass die Arbeit darin besteht, Zeit am Arbeitsplatz zu verbringen. Das gilt übrigens auch für die Beschäftigten selbst. Die meisten Menschen gehen nicht ins Büro, weil das Heizen zuhause zu teuer ist. Viele identifizieren sich mit ihrer Arbeitsstelle, die physische Präsenz vor Ort ist ein wichtiger Teil ihres Alltags. Auch da hat sich jetzt zwangsweise ein Umdenken vollzogen. Nun muss es darum gehen, das Thema Präsenz neu zu gestalten, Arbeitsräume flexibel und anders zu nutzen und insgesamt Büroflächen anders zu gestalten, ganz andere Räume zu schaffen.
Zurück zur Verkehrsvermeidung: Gibt es Erkenntnisse, ob es eher Autofahrer*innen oder eher ÖPNV-Nutzer*innen sind, die vorzugsweise das Homeoffice nutzen?
Unser Eindruck ist, dass die Motivation zum Homeoffice stark geprägt ist vom Aufwand, der mit der Fahrt zum Arbeitsplatz verbunden ist. Also von der Zeit und den Kosten. Die Unterscheidung zwischen Auto und Nahverkehr spielt dabei zunächst keine so große Rolle. Wir beobachten dabei vielmehr die sogenannten „Sowieso da-Effekte“. Wenn man das Auto sowieso da hat, dann nutzt man es in der Regel auch. Auch diese Entwicklung müssen wir genau beobachten. Eine nachhaltige Stadtentwicklung ist angewiesen auf den ÖPNV. Außerhalb der Kernbereiche ist die ÖPNV-Anbindung häufig schlechter. Im Gegenzug sind in diesen Bereichen aber die Rahmenbedingungen für Homeoffice meistens besser als in den Ballungsräumen, weil etwa die Wohnungen größer sind und sich die Räumlichkeiten besser eignen für einen Arbeitsplatz – ein guter Internetanschluss ist hier natürlich eine Grundvoraussetzung. Menschen außerhalb der Stadt haben daher oft einen höheren Anreiz, im Homeoffice zu arbeiten. Für die Fahrt zum Arbeitsplatz im Unternehmen nimmt diese Gruppe wiederum tendenziell häufiger das Auto.
Das Forschungsprojekt läuft noch eine ganze Weile. Haben Sie dennoch schon Empfehlungen, was künftig passieren müsste und wie sich Unternehmen auf eine neue Arbeitskultur vorbereiten können?
Wir haben auf jeden Fall den Eindruck, dass vieles möglich sein wird. Es stehen aktuell zahlreiche Fragen im Raum: Wie gestaltet man Präsenz? Welche Arbeitsräume machen Sinn? Zu welchen Gelegenheiten sollen welche Mitarbeiter wo zusammenkommen? Welche Arbeitsinhalte sollen freigegeben werden? Welche Tools braucht man? Wir haben viele Rückmeldungen, dass zwei Tage Homeoffice in der Woche perfekt wären. Die meisten Menschen wollen aber selber entscheiden, an welchen Tagen sie im Homeoffice bleiben. Um das zu koordinieren, braucht es gute Instrumente. Zu all diesen Aspekten müssen wir uns für die Zukunft Gedanken machen und Lösungen finden.
Zur Person
Matthias Wörlen arbeitet am Lehrstuhl für Sozioökonomik der Zeppelin Universität Friedrichshafen als Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler zu den Themen „Gute Arbeit“, „Innovationsfähigkeit“ und „Gesellschaftliche Nachhaltigkeit“. In seinen Forschungsprojekten interessiert er sich insbesondere für die Frage, welche Regeln, Haltungen und Kompetenzen die sozial-ökologische Transformation befördern. Ergebnisse seiner Forschungstätigkeit hat er vielfach auf nationalen und internationalen Konferenzen sowie in Fachartikeln/Buchbeiträgen erfolgreich und öffentlichkeitswirksam publiziert.
Zum Projekt VENAMO – Verkehrsentlastung durch neue Arbeitsformen und Mobilitätstechnologien
Zahlreiche Verkehrssysteme deutscher Metropolregionen stehen vor dem Kollaps.
Die Region Stuttgart ist aufgrund wirtschafts-, siedlungs- und verkehrsstruktureller Bedingungen besonders betroffen. Da in der Region an einem Werktag 40 Prozent der Verkehrsleistung durch Berufsverkehr verursacht wird, kann eine Verhaltensänderung bei berufsbezogenen Wegen einen Beitrag zu messbar weniger Verkehr und zu einer nachhaltigeren urbanen Mobilität leisten.
Das Forschungs- und Entwicklungsprojekt VENAMO wird über den Zeitraum von drei Jahren durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert, um neue Wege zur Verkehrsentlastung in der Region Stuttgart zu erproben. Das Projekt geht der Frage nach, inwieweit durch raum-zeitlich flexible Arbeit und ein verändertes Mobilitätsverhalten bei arbeitsbezogenen Wegen (einschließlich der Nutzung neuer Mobilitätstechnologien) Verkehrsentlastungseffekte erzielt werden können und – falls dies der Fall ist – welche Gestaltungsmöglichkeiten kommunalen Akteuren*innen aus Verkehrs- und Stadtplanung zur Verfügung gestellt werden können.
Durch die Unterstützung und Beteiligung von Kommunen und Unternehmen aus der Region Stuttgart werden die Potenziale neuer Arbeitsformen und Mobilitätstechnologien für die Region ermittelt und in Pilotprojekten umgesetzt.
Folgende Institutionen sind als Partner in das Projektvorhaben eingebunden:
- Zeppelin Universität, Lehrstuhl für Sozioökonomik (Lead Partner)
- ZIRIUS – Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (Universität Stuttgart)
- KIT (Karlsruher Institut für Technologie)
- Balluff GmbH
Assoziierte Partner:
- Verband Region Stuttgart
- Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH