Marie-Luise Schönherr vom Institut Stadt|Mobilität|Energie (ISME) erzählt im Interview, warum Partizipation dabei wichtig ist, wie Verkehrsversuche helfen können und warum es mehr „weibliche Mobilität“ braucht.
Frau Schönherr, die Mobilitätswende scheint im Schatten der aktuellen Krisen etwas ausgebremst worden zu sein. Jedenfalls werden wieder deutlich weniger E-Fahrzeuge gekauft. ISME plant und konzipiert als Beratungsgesellschaft überall im Land Projekte im Bereich nachhaltige Mobilität und hat daher gewissermaßen den Finger am Puls der Zeit. Haben die Unternehmen, Kommunen und vor allem die Menschen gerade zu viele andere Sorgen, um sich auch noch um das Thema Nachhaltigkeit zu kümmern?
Tatsächlich wird das Thema Nachhaltigkeit immer wieder durch andere Themen überschattet, aber gerade in den letzten Jahren wurde bereits einiges erreicht, insbesondere im Bereich der Elektromobilität. Natürlich ist dies auch auf die intensive Förderung zurückzuführen, was ein wichtiger erster Schritt hin zu einer Mobilitätswende war. Es reicht aber nicht aus, nur auf die Verkaufszahlen zu schauen, denn auch wenn Elektrofahrzeuge einen klimafreundlichen Antrieb haben, nehmen sie immer noch sehr viel Raum in den Städten und Ballungszentren ein. Außerdem brauchen sie immer noch Kraftstoff, in diesem Fall Strom, und eine entsprechende Ladeinfrastruktur. Das Ziel sollte daher sein, die Grundmobilität insgesamt zu verändern, ganz neue Angebote zu entwickeln und vor allem mit Gewohnheiten und Routinen zu brechen. Den Verkehr zu optimieren ist gut – Verkehr, wenn möglich, zu vermeiden, ist aber die bessere Lösung.
Eine gewagte These in einem Autoland, das weit und breit das einzige ist, das kein Tempolimit eingeführt hat. Alleine das zeigt, welchen Stellenwert das Auto hier hat.
Genau deshalb müssen wir das Thema grundsätzlich angehen und neu denken. Seit den 60er Jahren ist alles für das Auto geplant worden, das ist gerade in der Region Stuttgart jeden Tag erlebbar. Wir können so aber nicht mehr weitermachen und es würde auch nicht helfen, noch mehr Straßen zu bauen. Das würde nur noch mehr Verkehr und Stau verursachen – so viel sollten wir mittlerweile gelernt haben. Um in einem Ballungsraum mehr Platz für andere Verkehrsarten zu gewinnen, müssen die Autos etwas zurückgedrängt werden. Dann wäre Platz für breitere Gehwege, für Radinfrastruktur und andere Arten von Mobilität.
Also einfach Fahrbahnen wegnehmen oder sperren?
Die vorhandenen Verkehrsflächen müssen anders verteilt werden, eine andere Möglichkeit gibt es in einem Ballungsraum in der Regel ja gar nicht, da bereits alles bebaut ist. Die entscheidende Frage ist, wie viel Platz einem Verkehrsmittel im Straßenraum gewährt wird. Wenn wir also beispielsweise den klimafreundlichen Radverkehr fördern wollen, müssen wir den Autos Platz wegnehmen. Das scheitert aber meist schon daran, dass lediglich auf die aktuellen Zahlen geschaut wird – also wie viel Radverkehr es in einem bestimmten Bereich bereits gibt. Das ist aber der falsche Ansatz. Radverkehr entsteht erst dann, wenn es eine gut ausgebaute Infrastruktur gibt. Ein guter, sicherer und komfortabler Radweg wird von vielen Menschen genutzt. Auf schmale Radwege, die an den Hauptverkehrsstraßen plötzlich aufhören, trauen sich nur die Mutigen. Die Metropole Paris hat vor einigen Jahren eine große Fahrradoffensive gestartet und das Radwegenetz kontinuierlich in kürzester Zeit ausgebaut. Das hat die Stadt völlig verändert und zeigt, dass es geht, wenn der Wille zur Veränderung da ist.
In der Region Stuttgart wird man als Radfahrer dagegen eher als Störfaktor wahrgenommen – oder?
Es ist aus verschiedenen Gründen jedenfalls nicht so einfach, überall gut durchzukommen, was insbesondere für Stuttgart selbst gilt. Die Initiative „Radentscheid Stuttgart“ setzt sich seit einiger Zeit für bessere Fahrradbedingungen ein, ich selbst habe mich dort auch engagiert. Das Ziel sollte sein, dass es ein richtiges Radwegenetz in der Stadt gibt, das einheitlich erkennbar ist und zusammenhängt. Bisher existiert eher ein Stückwerk, mal ein schmaler Streifen hier, mal eine rot eingefärbte Fläche dort und oft enden die Wege einfach irgendwo. Viele trauen sich daher nicht, mit dem Fahrrad zur Arbeit oder zum Einkaufen zu fahren. Wenn wir die Mobilitätswende tatsächlich schaffen wollen, dann muss Radinfrastruktur ganz selbstverständlich zum Stadtbild gehören. Da würde ich mir mehr Mut auf der Verwaltungsseite und der Lokalpolitik wünschen.
Immerhin hat die Stadt beschlossen, im Stuttgarter Westen den Verkehrsversuch „Superblock Augustenstraße“ zu starten. Das Modellprojekt wird von einer Bürgerbeteiligung begleitet, die von ISME geplant und durchgeführt wird. Wie ist die Stimmung im Westen – überwiegt Skepsis oder Vorfreude?
Auf jeden Fall die Vorfreude, wobei es natürlich immer auch skeptische Stimmen gibt. Das ist aber nicht nur in Stuttgart so, sondern überall. Die Idee zu einem Stuttgarter Superblock ist ursprünglich aus einer Quartiersinitiative hervorgegangen, die sich Gedanken über die Nutzung des öffentlichen Raums gemacht hat und zur Mobilitätswoche 2021 einen „Pop-up Superblock“ initiierte. Die Stadtverwaltung hat das dann aufgenommen und weiterentwickelt. Die vorgelagerte Bürgerbeteiligung hat bereits 2022 begonnen, unter anderem haben wir bei einer Auftaktveranstaltung im Kulturzentrum Merlin über das Projekt informiert, Bedarfe abgefragt, Ideen und Vorschläge gesammelt und mit den Bewohner:innen, Eigentümer:innen, Arbeitnehmer:innen, Gewerbetreibenden und allen anderen Interessierten diskutiert. Seither hat es noch weitere Beteiligungsmöglichkeiten gegeben, auch über die Onlineplattform Stuttgart-Meine-Stadt. Herausgekommen ist am Ende eine konkrete Planung, wie der Superblock im Projektgebiet ausgestaltet werden soll.
Was genau kann man sich vorstellen unter einem solchen Superblock?
Das Konzept des „Superblocks“ wurde 2016 in Barcelona als neues Instrument der Stadtgestaltung entwickelt. Die Idee dabei ist, mehrere Häuserblöcke zu einem sogenannten Superblock zusammenzufassen. Innerhalb dieses Superblocks haben Fußgänger:innen und Radfahrende Vorrang. Die Straßen werden zu einspurigen Einbahnstraßen umgestaltet, auf den frei gewordenen Flächen werden Bäume, bepflanzte Hochbeete, Blumenkübel und Bänke aufgestellt. Gerade mehr Grün steigert nicht nur die Aufenthaltsqualität, sondern ist auch essenziell zur Klimaanpassung der Städte. Kinder können hier spielen und es kann Sport getrieben werden, die Anwohner:innen treffen sich und plaudern. Die Straßen werden praktisch zum erweiterten Wohnzimmer. Der Autoverkehr ist nur noch auf den verbleibenden Einbahnstraßen erlaubt und das mit deutlich reduzierter Geschwindigkeit. Zwischenzeitlich sind diese Superblocks in einigen Städten Herzstück kommunaler Konzepte für nachhaltige Mobilität geworden.
Was den meisten Anwohnern gefallen dürfte angesichts der entspannten Atmosphäre vor dem Haus, den Einzelhändlern und Gewerbetreibenden aber eher nicht – oder?
Der erste Superblock in Barcelona ist im Stadtviertel Poblenou entstanden, damals tatsächlich mit großem Zuspruch der Anwohner:innen, aber gegen die Widerstände von Geschäftsleuten und Autofahrenden. Das befürchtete Ladensterben ist aber in diesem Quartier und auch in später eingerichteten Superblocks ausgeblieben. Teilweise ist die Anzahl regionaler Geschäfte und Läden sogar um 30 Prozent angestiegen. Das zeigt, dass dieses Konzept für alle Beteiligten funktionieren kann und für alle deutlich mehr Lebensqualität bringt. Mittlerweile zeigen mehrere Studien aus Europa und den USA, dass insbesondere autofreie oder sehr stark autoreduzierte Innenstädte höhere Umsätze im Einzelhandel generieren.
Stuttgart und Barcelona sind beides prosperierende Metropolen, aber die Schwaben sind vielleicht nochmal von anderer Mentalität und lieben halt ihr Auto. Wird das Konzept hier trotzdem funktionieren?
Der Autoverkehr ist hier natürlich ein sehr emotionales Thema. Wenn Straßen umgestaltet werden sollen, wird meist befürchtet, dass man beispielsweise Parkplätze wegnehmen will. Das hat vor allem mit der Gewohnheit zu tun, dass das Auto fast überall abgestellt werden kann. Das ist fast schon zu einer Art Grundrecht geworden. Wir versuchen dann in den Beteiligungsprozessen und Beratungen, die Stimmung aufzunehmen, um die Ängste, Sorgen und Motive dahinter zu ergründen. Wenn Veränderungen angenommen werden sollen, zumal in diesem Bereich, muss man die Menschen von Beginn an mitnehmen und ihre Einwände und auch Ängste ernst nehmen. Wir haben die Gewerbetreibenden deshalb auch extra eingeladen. Es ist wichtig, möglichst alle Belange zu berücksichtigen. Das ist nicht immer einfach, da gerade Stille Gruppen, z.B. Menschen mit sprachlichen Barrieren, schwer zu erreichen sind. Aber wenn es gelingt, möglichst viele Menschen im Prozess mitzunehmen, sind das gute Voraussetzungen, dass solch ein Verkehrsversuch auch angenommen und nicht von vornherein boykottiert wird.
Und wann geht es los?
Geplant ist, dass der Verkehrsversuch im Frühjahr 2024 starten wird. Betroffen ist der Bereich Augustenstraße zwischen der Schwab- und der Silberburgstraße sowie alle dazwischenliegenden Querstraßen. Innerhalb dieses Projektgebiets wird der Durchfahrtsverkehr durch das Einbahnstraßensystem auf die umliegenden Hauptverkehrsachsen gelenkt, sodass innerhalb des Blocks mehr Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmenden entsteht und es werden auch Freiflächen gewonnen. Viele werden sicher gespannt auf den Startschuss warten, aber es wird eine Weile brauchen, bis sich alles eingespielt hat. Der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier und eine neue Verkehrsführung wird zunächst vielfach als Umweg oder gar Ärgernis empfunden. Es braucht seine Zeit, damit etwas zur Routine wird und die Vorteile einer Veränderung erkannt und bewusst erlebt werden können. Daher ist der Versuch auch auf anderthalb Jahre angelegt.
Und dann?
Während der Versuchsphase und auch schon davor werden Erkenntnisse über die Effekte und Veränderungen gesammelt. Das ganze Projekt wird intensiv begleitet, auch für den Fall, dass an der einen oder anderen Stelle vielleicht nachjustiert werden muss. Es wäre ein denkbar schlechtes Signal, wenn nach dem Verkehrsversuch alles wieder auf Anfang zurückgedreht werden würde. Solche Modellversuche sind grundsätzlich eine gute Sache, weil Veränderungen praktisch erlebt werden können. Noch besser wäre es aus meiner Sicht aber, solche Vorhaben gleich dauerhaft umzusetzen, sie nach einer gewissen Zeit zu evaluieren und dann, wenn nötig, etwas anzupassen oder daran weiterzuarbeiten. Wir müssen viel mehr ins Tun kommen. Auf diese Art und Weise hätte man wesentlich mehr Möglichkeiten, Quartiere umzugestalten. Bei einem Verkehrsversuch muss alles wieder rückbaubar sein, das ist rechtlich festgelegt. Bäume zu pflanzen, ist in solch einem Rahmen daher beispielsweise nicht möglich.
Warum agieren viele Stadtverwaltungen und Unternehmen dann trotz der Klimaschutzvorgaben und der ambitionierten Ziele so zögerlich?
Wir tendieren dazu, die perfekte Lösung für etwas zu suchen. Mit diesem Anspruch wird oftmals so lange über ein Vorhaben und vor allem die damit verbundenen Probleme diskutiert, bis es wieder vertagt oder sogar aufgegeben wird. Oft gibt es aber gar keine perfekte Lösung und vielleicht braucht es die auch gar nicht. Wir müssen agiler werden, schneller auf Veränderungen reagieren, einfach etwas probieren und nicht sofort mögliche Probleme sehen. Es ist heutzutage üblich, etwas negativ zu bewerten, wenn es nicht funktioniert hat wie geplant. Ein solches Vorhaben bekommt dann das Prädikat „gescheitert“ verliehen und es wird wieder ein Schritt zurückgemacht. Dieses vermeintliche Scheitern kann aber auch als Erfahrung gesehen werden, auf der man aufbauen, Dinge weiterentwickeln und optimieren kann. Aus Worst-Practice-Beispielen lässt sich zum Teil mehr lernen als aus Best-Practice-Beispielen. Alles so zu belassen, wie es ist, bringt uns jedenfalls nicht weiter. Dann verharren alle in den gewohnten Routinen, die in jedem Menschen verankert sind. In der Regel ändern Menschen ihr Mobilitätsverhalten ja nicht einfach so, sondern dann, wenn sie durch äußere Einflüsse dazu gezwungen werden, zum Beispiel wenn sie den Arbeitsplatz oder den Wohnort wechseln. Es braucht also einen Bruch, um neue Mobilitätsroutinen zu etablieren. Daher müssen wir solche Brüche aktiv erzeugen, etwa durch Erschwernisse oder auch Verbote, damit die Menschen ihre Routinen überdenken müssen. Wenn dann gleichzeitig Anreize geschaffen werden und gute alternative Mobilitätsangebote vorhanden sind, kann sich ein neues Mobilitätsverhalten bilden.
Es wird zunehmend auch darüber diskutiert, ob das Thema Mobilität nicht zu sehr von männlichen Sichtweisen geprägt ist. Oder anders gesagt: Braucht es mehr „weibliche Mobilität“, um die ökologische Verkehrswende schneller voranzubringen?
Frauen und Männer haben ein vollkommen unterschiedliches Mobilitätsverhalten, was aber nicht zwangsläufig am Geschlecht, sondern insbesondere an der unterschiedlichen Aufgabenteilung liegt. Frauen übernehmen einen deutlich höheren Anteil an Care-Arbeit, kümmern sich um die Kinder, den Haushalt, die Familie und vieles mehr. Um das alles zu erledigen, nutzen sie oft unterschiedliche Verkehrsmittel und kombinieren diese miteinander. Insgesamt sind ihre Wegstrecken aber auch kürzer. Sie gehen zu Fuß einkaufen, fahren Bus und holen die Kinder mit dem Fahrrad von der Kita ab. Männer dagegen fahren statistisch gesehen meist direkt mit dem Auto zur Arbeit und wieder zurück. Das liegt auch daran, dass in der Regel längere Wegstrecken zurückgelegt werden müssen und diese seltener mit weiteren Aktivitäten verbunden werden. Es liegt hier also eine Rollenverteilung vor, die anerzogen wurde, sich in unserer Gesellschaft etabliert und verfestigt hat. Natürlich gibt es Ausnahmen, die gibt es immer, aber überwiegend besteht diese Rollenverteilung nach wie vor. Das Ziel sollte also sein, die unterschiedlichen Mobilitätsmuster anzugleichen, indem Männer etwa mehr Care-Arbeit übernehmen – nicht ausnahmsweise, sondern integriert in den eigenen Alltag. Darüber hinaus sollte die Verkehrsplanung diverser werden. Aktuell ist diese von androzentrischen Denkmustern geprägt, indem maskuline Normen reproduziert werden und deshalb vor allem die motorisierte Mobilität in den Fokus der Planung gestellt wird. Um langfristig ein nachhaltiges Verkehrssystem zu erhalten, müssen wir vor allem die dominierenden maskulinen Normen hinterfragen. Zusätzlich braucht es mehr Diversität in den Führungspositionen von Politik und Wirtschaft, um auch dort andere Sichtweisen und Perspektiven zu verankern.
Zur PERSON
„Wenn wir die Mobilitätswende voranbringen wollen, ist es wichtig, die verschiedenen Perspektiven und Beweggründe zu verstehen und die Menschen im Prozess mitzunehmen. Trotzdem dürfen wir keine Angst vor vermeintlich drastischen Veränderungen haben – nur so schaffen wir den Sprung zu mehr Nachhaltigkeit auch im Verkehrssektor.“
Marie-Luise Schönherr ist Geografin und hat bereits früh ihr Interesse an partizipativen Planungsprozessen entdeckt. Seit dem Studium beschäftigt sie sich mit Bürgerbeteiligung vorm Hintergrund der Stadtentwicklung und der nachhaltigen Mobilität – ihr persönliches Interesse liegt im Zusammenspiel partizipativer Stadt- und Mobilitätsentwicklung. Teil des Institut Stadt|Mobilität|Energie (ISME) ist sie seit 5 Jahren. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bürgerbeteiligung, Befragungen, Radverkehr sowie dem betrieblichen Mobilitätsmanagement.
Das Interview führten Alexandra Bading (Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH) und Markus Heffner (Journalist und Redaktionsbüro) im August 2023.