
Der Nahverkehrsexperte Dr. Jürgen Wurmthaler beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema Mobilität in der Region Stuttgart. Mit einer leistungsstarken S-Bahn als wichtigstem Träger des Nahverkehrs, die in ein intermodales Gesamtsystem mit vielen Komponenten und niederschwelligem Zugang integriert ist, könne die Mobilitätswende gelingen, betont er im Interview: „Wandel braucht aber seine Zeit, daher kommt es auch auf das Durchhaltevermögen an.“
Herr Dr. Wurmthaler, Sie verabschieden sich Ende des Jahres in den wohl verdienten Ruhestand und reichen damit auch den Hut als Verkehrsdirekter beim Verband Region Stuttgart weiter. Sind Sie mit allem fertig geworden, was Sie vorhatten – also haben Sie alle Ziele erreicht?
Jürgen Wurmthaler: Beim Thema Mobilität ist man nie fertig, dieser Bereich entwickelt sich mit der Gesellschaft und ihren Bedürfnissen, Anforderungen, Möglichkeiten kontinuierlich weiter. Das ist schon immer so gewesen und wird wohl auch so bleiben. Mobilität gibt es, seit es die Menschheit gibt. Der Wandel ist also gesetzt und es kommen immer wieder neue Formen dazu, beispielsweise der Datenverkehr, der für mich auch zum Themenkomplex Mobilität und Infrastruktur gehört. Dieser Verkehr funktioniert weltweit in Sekundenschnelle und hat fundamentale Auswirkungen auf unsere Lebensweise und auch die individuelle Mobilität der Menschen, er verschmilzt gewissermaßen mit ihr.
Wie meinen Sie das?
Jürgen Wurmthaler: Wir haben heute ganz andere technische Möglichkeiten als noch vor einigen Jahren. Denken Sie nur an die unzähligen Onlineshops, an Amazon und Co. Aus der Perspektive der Verkehrsplaner und Mobilitätsverantwortlichen in stark belasteten Regionen ist es vermutlich sinnvoller, wenn die Menschen ihre Einkäufe von zuhause aus tätigen und von einem Transporter der Reihe nach beliefert werden. Die Alternative wäre, dass all diese Menschen mit dem Auto durch die Städte fahren, was die Umwelt stärker belastet und mehr CO2 freisetzt. Ein anderes Beispiel sind die Videokonferenzen und Homeoffice, was durch die Corona-Pandemie ganz extrem vorangetrieben wurde. Diese neuen Möglichkeiten haben sich enorm auf die reale Mobilität auf der Straße ausgewirkt.
Also hat die Pandemie den Wandel beschleunigt?
Jürgen Wurmthaler: Aus meiner Sicht war die Pandemie ein regelrechter Einschnitt im Mobilitätsverhalten der Menschen, eine Zeitenwende, wie man so sagt. Seither läuft vieles anders und das merken wir beispielsweise auch an den Fahrgastzahlen der S-Bahn und des ÖPNV insgesamt, die vor der Pandemie stetig gestiegen sind. Nach dem Einbruch durch die Lockdowns haben wir noch immer nicht das Niveau von 2019 erreicht.
Was heißt das in konkreten Zahlen?
Jürgen Wurmthaler: Im Jahr 2019 hatten wir noch 130 Millionen Fahrten im Jahr bei der S-Bahn verbucht, vergangenes Jahr waren es rund 104 Millionen. Gleichzeitig sagen die Statistiken auch, dass der Anteil des Fußgänger- und Radverkehrs seither deutlich zugelegt hat und dass dieser Trend anhält. Das sind positive Entwicklungen mit Blick auf die Gesamtmobilität und die Verkehrswende.
Nicht zu vergessen die Klimaschutzziele des Landes Baden-Württemberg mit ihren ambitionierten Vorgaben – beispielsweise die Verdopplung der Fahrgastzahlen im ÖPNV bis 2030. Für wie realistisch halten Sie solche Vorgaben?
Jürgen Wurmthaler: Ich bin sehr vorsichtig mit solchen theoretischen Zielen, die auf die Quantität zielen. Aus meiner Sicht sollte man sich mehr Gedanken in qualitativer Hinsicht machen, wie man die Attraktivität des ÖPNV steigern kann beispielweise. Das Problem bei diesen theoretischen Vorgaben ist, dass zu ehrgeizige Ziele das Frustrationspotenzial steigern. Wenn ich mir als Sportler Ziele stecke, die ich kaum erreichen kann, bin ich irgendwann frustriert und gebe auf. Daher ist es psychologisch sinnvoller, Ziele zu setzen, die man gut erreichen kann. Mehr geht dann immer noch.
Also wird es nichts mit einer Verdoppelung der Fahrgastzahlen bis 2030?
Jürgen Wurmthaler: Um das zu erreichen, braucht man mehr Züge. Und für mehr Züge braucht man mehr Geld. So eine Betrachtung ist aber zu eindimensional, man muss immer das Gesamtsystem sehen. Beispielsweise fahren immer mehr Metropolexpresslinien, wodurch die S-Bahn entlastet wird. Zusätzlich haben wir die Regionalzüge, die Pendelnde von weiter weg in die Region bringen. Und zwar im Nahverkehrsbereich, also in maximal einer Stunde. Für Mannheim oder Ulm gilt das heute schon und es werden immer mehr Regionen dazukommen. In der Stadt selbst haben wir die Expressbusse, die normalen Linienbusse und natürlich die Stadtbahn. Das sind alles ergänzende Systeme mit einem hohen Takt und schnellen Umsteigezeiten. Und mit Stuttgart 21 wird dieses System nochmal auf ein neues Level gehoben, dann beginnt auch für die S-Bahn eine neue Ära.
Welche Effekte versprechen Sie sich davon?
Jürgen Wurmthaler: Einer der wichtigsten direkten Vorteile ist sicher die Haltestelle Mittnachtstraße, die zwei zentrale Aufgaben hat. Zum einen ist sie mit Blick auf das neue Rosensteinquartier im Herzen der Stadt sehr wichtig für die künftige innerstädtische Erschließung. Ein Viertel mit vielen Wohnungen und Arbeitsplätzen ist vor allem dann attraktiv, wenn es gut erreichbar ist. Gleichzeitig sorgt die Station mit ihrer zentralen Innenstadtlage für eine deutliche Entzerrung der bisherigen Umsteigesituation, weil die Linien S4, S5, S6 aus dem Norden und S1, S2, S3 aus dem Süden bereits dort zusammenkommen. Bisher findet das erst am Hauptbahnhof statt, Umstiege zwischen den Linien können sich damit besser verteilen. Die Station Mittnachtstraße entlastet das S-Bahnsystem dadurch künftig, weil sich die Pendlerströme mit Stuttgart 21 anders verteilen. Das wird den Betrieb der S-Bahn stabiler machen. Ein weiterer Aspekt ist die Umstellung des Betriebs auf digitale Signaltechnik, also ETCS. Diese Technologie eröffnet uns nicht nur die Möglichkeit, die Kapazitäten signifikant zu steigern, sie bringt auch enorme Vorteile für die gesamte Region in Sachen Qualität, Stabilität und Flexibilität. Auch das ist eine der großen Chancen, die sich als Folge von Stuttgart 21 für uns auftun. Diese Möglichkeit haben wir für die S-Bahn genutzt, wir profitieren also von der Digitalisierung der Stellwerktechnik des Stuttgarter Hauptbahnhofs und der Stammstrecke.
Der Haupteffekt der digitalen Signaltechnik soll durch einen höheren Takt erreicht werden. Was bedeutet das in konkreten Zahlen?
Jürgen Wurmthaler: Aktuell können wir auf der Stammstrecke mit zweieinhalb Minuten Abstand fahren, das macht insgesamt 24 Züge pro Stunde und Richtung. Damit ist aus heutiger Sicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Künftig können wir zunächst 28, dann 30 Züge und langfristig sogar 36 Züge fahren lassen. Weitere positive Effekte ergeben sich beispielsweise mit der dann möglichen Durchbindung der S5 aus Bietigheim-Bissingen, die bisher an der Haltestelle Schwabstraße endet. Dadurch werden wichtige Haltestellen, wie etwa die Universität Vaihingen, künftig aus dem Norden ohne Umstieg erreichbar sein. Das ist umso wichtiger, als sich gerade große Unternehmen wie Allianz oder Daimler in Vaihingen ansiedeln. Gleichzeitig versprechen wir uns auch vom Re-Design der Fahrzeuge mit größeren Gemeinschaftsbereichen und mehr Platz zum schnelleren Ein- und Aussteigen einen Beitrag zu einem stabileren Betrieb.
Also wird die S-Bahn auch künftig der wichtigste Träger des Nahverkehrs in der Region Stuttgart bleiben?
Jürgen Wurmthaler: Als verantwortlicher Träger der S-Bahn muss unser Ziel natürlich sein, diese führende Rolle in der Region Stuttgart noch weiter auszubauen. Nicht in Konkurrenz zu anderen Verkehrsträgern wie etwa den Regionalzügen oder Metropolexpresszügen des Landes, sondern als gut abgestimmte Ergänzung. Wir sind in der einmaligen Situation, den Bereich Signaltechnik und Fahrbetrieb auf einer hochbelasteten S-Bahn-Stammstrecke erstmals in Deutschland neu zu denken, um langfristig eine höhere Verfügbarkeit und einen leistungsfähigeren Betrieb mit größerer Reichweite zu erreichen. Die S-Bahn erschließt schon jetzt das ganze Umfeld in der Region. Dank Stuttgart 21 können wir das Angebot künftig in verschiedene Richtungen verlängern, beispielsweise Richtung Nürtingen, Göppingen und Geislingen oder auch Vaihingen-Enz. Immer verknüpft mit einem dichten Netz an Bussen, Stadtbahnen sowie zahlreichen Regionalzügen und Nebenbahnen. Denn man braucht nicht für jede Anbindung gleich einen Zug. Mitunter ist es deutlich sinnvoller, einen Elektrobus für zwei Millionen Euro im Jahr fahren zu lassen, statt für 200 Millionen Euro eine neue Strecke zu bauen – je nach Bedarf.
Den Sie woher kennen?
Jürgen Wurmthaler: Wir machen regelmäßig Befragungen zur Mobilität in der Region Stuttgart. Das ist die Basis, um das Verkehrsangebot zukunftsorientiert weiterzuentwickeln, wobei wir negative Auswirkungen wie Lärm-, Schadstoff- und klimarelevante CO2-Emissionen möglichst vermeiden wollen. In diesem Jahr haben wir eine Befragung neu aufgesetzt und insgesamt 5.000 zufällig ausgewählte Haushalte angeschrieben, die als signifikante Stichprobe die Regionsbevölkerung mit rund 2,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern repräsentieren. Das Besondere dabei ist, dass wir das jeweilige Mobilitätsverhalten für sieben aufeinanderfolgende Tage abfragen. Aus den erhobenen Daten werden wir zusammen mit der Universität Stuttgart ein neues Verkehrsnachfragemodell generieren, das für die zukünftige Entwicklung des Verkehrsangebotes in der Region Stuttgart die Grundlage bildet – von der S-Bahn bis zum Fußgänger- und Radverkehr.
Und das Ende der ewigen Staus auf allen Zufahrtsstraßen rund um Stuttgart bedeutet?
Jürgen Wurmthaler: Das wäre natürlich der Idealfall – aber jede noch so gute Planung kommt an ihre natürlichen Grenzen. Um das leidige Thema Stau anzugehen und in Echtzeit auf die aktuelle Verkehrslage reagieren zu können, hat der Verband Region Stuttgart die regionale Verkehrsmanagementzentrale initiiert, eine Mobilitätsplattform, die eine intelligente Steuerung und Lenkung des Verkehrs langfristig in der gesamten Region ermöglichen soll. Dieser kommunenüberschreitende Gedanke ist dabei zentral, denn der Verkehr hält sich nicht an kommunale Grenzen.
Wie funktioniert diese Mobilitätsplattform?
Jürgen Wurmthaler: Wir haben zunächst die Bereiche in der Region identifiziert, die am stärksten frequentiert sind und vier Pilotkorridore rund um Stuttgart eingerichtet, mit dem Ziel, gemeinsam Lösungen für die bestehenden Verkehrsprobleme, Staus und Überlastungen zu erarbeiten. Aktuell beteiligen sich daran die Städte Böblingen, Esslingen, Filderstadt, Leinfelden-Echterdingen, Ostfildern, Ditzingen, Fellbach, Leonberg, Ludwigsburg, Remseck und Waiblingen sowie die Landkreise Böblingen, Esslingen, Ludwigsburg und der Rems-Murr-Kreis. Zudem kooperieren auch die Landeshauptstadt Stuttgart mit ihrer Integrierten Verkehrsleitzentrale und das Land Baden-Württemberg. In einer ersten Stufe sollen über diese Austauschplattform passgenaue Steuerungsstrategien angestoßen werden und in situationsgerechten Ampelschaltungen aufgerufen werden können. Gleichzeitig laufen hier Informationen über Baustellen sowie freie P+R-Plätze auf und stehen den Stadt- und Kreisverwaltungen als planerische Grundlage zur Verfügung. Der Wirkungsbereich der „Regionalen Verkehrsmanagementzentrale“ ist in der jetzigen Form noch nicht abgeschlossen, aber ein guter Anfang ist damit gemacht.
Und ein „gutes Ende“ ist damit auch in Sicht, womit wir wieder bei Ihrem anstehenden Ruhestand wären. Gibt es Momente in Ihrer langen Karriere, die Sie als besonders prägend in Erinnerung haben?
Jürgen Wurmthaler: Davon gibt es sicher einige: Die Beschaffung von 56 neuen S-Bahn-Zügen etwa, die Einführung von ETCS oder die anstehende Verlängerung der S-Bahn nach Nürtingen. Aber ich würde dabei noch weiter zurückgehen. Als der Verband 1994 gegründet wurde, war das Thema S-Bahn nur perspektivisch als Aufgabe gesetzt. Denn das Regionalisierungsgesetz trat erst zum 1. Januar 1996 in Kraft. In der Folge des Regionalisierungsgesetz wurde der Verband Region Stuttgart zum Aufgabenträger für die S-Bahn. Es hat aber noch bis 2002 gedauert, bis wir den ersten eigenen S-Bahn-Vertrag vorlegen und diese Aufgabenträgerschaft mit entsprechendem Gestaltungsspielraum richtig wahrnehmen konnten. Bis dahin hatte das Land die Aufgabe für uns übernommen. Diesen ersten Vertrag präsentieren zu können, das war sicher ein ganz besonderer Moment für mich. Und seither weiß ich: Wandel braucht seine Zeit, daher kommt es auch auf das Durchhaltevermögen an.
Zur PERSON

Jürgen Wurmthaler studierte Bauingenieurwesen an der Universität Stuttgart. Nach Tätigkeiten im Bereich Wasserwirtschaft und Umwelttechnik stieg er 1994 als Referent für Infrastrukturplanung beim Verband Region Stuttgart ein. Seit 2002 ist er dort Leitender Direktor für Wirtschaft und Infrastruktur.
„Die Chance zu ergreifen bei der Gestaltung des eigenen Lebensraums im Hinblick auf ökologische, ökonomische und soziale Anforderungen mitwirken zu können, ist gleichermaßen Motivation und Antrieb bei und für die Arbeit.“
Das Interview führten Alexandra Bading (Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH) und Markus Heffner (Journalist und Redaktionsbüro) im Juli 2025.