„Ambitionierte Ziele brauchen ambitionierte Lösungen!“

Bis 2030 sollen in Deutschland eine Million öffentlich zugängliche Ladepunkte zur Verfügung stehen, zudem sollen laut Koalitionsvertrag 15 Millionen Elektrofahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein. Umgesetzt werden müssen die ambitionierten Ziele der Bundesregierung letztlich in den Landkreisen und Städten. Wir beleuchten in einer Interview-Reihe, wo die Region Stuttgart aktuell steht.

Dr. Axel Volkery, Generaldirektion Mobilität und Verkehr der Europäischen Kommission

Im fünften Teil der Serie erklärt Dr. Axel Volkery von der Generaldirektion Mobilität und Verkehr der Europäischen Kommission, wie der Stand beim Ausbau der Ladeinfrastruktur im europäischen Kontext ist, welche Vorgaben von der EU kommen und wie es um die Klimaziele steht.

Herr Volkery, das EU-Parlament und der Ministerrat haben im Oktober für das faktische Verbrenner-Aus ab dem Jahr 2035 gestimmt. Die richtige Entscheidung?

Die Klimawende ist eines der wichtigsten Themen, das höchste Priorität bei der EU hat. Ausdruck dafür ist unter anderem der Start des europäischen Green Deals im Dezember 2019, der den Klimaschutzmaßnahmen und der Klimapolitik noch einmal neue Impulse und Möglichkeiten verschafft hat. Ein zentraler Baustein dabei ist das Europäische Klimagesetz, das vorschreibt, dass die EU bis zum Jahr 2050 klimaneutral sein muss. Das ist erstmals keine Absichtserklärung, sondern eine verbindliche rechtliche Vorgabe, die zwingend erfüllt werden muss. Wir haben für die verschiedenen Sektoren Szenarien, die ausrechnen, was das für den CO²-Ausstoß bedeutet. Die Emissionsreduktionskurve für den Verkehrsbereich zeigt dabei, dass wir 90 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 einsparen müssen. Der Straßenverkehr ist mit Abstand der größte Verursacher, daher muss er auch den größten Beitrag leisten. Hierfür brauchen wir bei Neufahrzeugen nicht nur eine schnelle Marktdurchdringung von null-Emissionstechnologien, sondern auch alle erneuerbaren alternativen Kraftstoffe im Fahrzeugbestand.

Viele sehen in synthetischen Kraftstoffen eine Möglichkeit, also dem Betrieb von herkömmlichen Fahrzeugen mit Elekrofuels. Warum ist diese Option nicht berücksichtigt worden in dem Beschluss?

Es sind alle Alternativen in der Erarbeitung des Vorschlags intensiv geprüft worden. Im Fall von synthetischen Kraftstoffen sind die Kosten für die Fahrzeughalter wesentlich höher, während der Beitrag zur Reduzierung der Emissionskurve bei Neufahrzeugen niedriger ist. Außerdem haben die Hersteller keinen Einfluss darauf, was ihre Kunden tanken. Zudem ist es schwierig, die Emissionsreduktionen in der Herstellung zwischen Energie- und Verkehrssektor korrekt zuzuteilen. Auch im Hinblick auf die substanziellen Investitionsentscheidungen aller Hersteller wurde politisch entschieden, ab 2035 nur noch Technologien zuzulassen, die keinerlei Emissionen am Auspuff verursachen, also etwa Antriebe per Batterie, Brennstoffzelle oder Wasserstoff. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass es ab 2035 keine Verbrenner mehr geben wird. Wir haben aktuell etwa 240 Millionen Fahrzeuge innerhalb der EU, die Neuzulassungen liegen üblicher-weise bei 12 bis 14 Millionen im Jahr. Da kann man sich leicht ausrechnen, wie lange es dauert, bis der gesamte Fahrzeugbestand emissionsfrei ist.

Nämlich wann?

Ab dem Jahr 2050 laut unserer Strategie für einen nachhaltigen und intelligenten Verkehr. Deshalb brauchen wir auch alle anderen Kraftstoffe, die wir haben, insbe-sondere Biokraftstoffe. Deshalb sieht auch der Vorschlag für die Revision der EU-Richtlinie für erneuerbare Energien eine Verdoppelung der erneuerbaren Kraftstoffe im Verkehrsbereich vor, damit auch die konventionell angetriebenen Fahrzeuge möglichst klimafreundlich unterwegs sind. Insgesamt müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien im Kontext der Verkehrswende ambitioniert vorantreiben. Das ist eine enorme Herausforderung, für die es aber keine Alternative gibt. Zusätzlich kommt hinzu, dass die europäischen Autobauer in einem globalen Wettbewerb stehen mit US-amerika-nischen und asiatischen Konzernen, die immer bessere Autos bauen und auf dem europäischen Markt sehr präsent sind oder, wie im Fall der chinesischen Hersteller, auf ihn drängen. Wir müssen also gleichzeitig auch die Transformation einer ganzen Industrie so organisieren, dass wir im Mobilitätsbereich konkurrenzfähig bleiben und gut aufgestellt sind. Die Aufgabe der EU ist es, die Mitgliedsstaaten dabei zu unterstützen.

Eine weitere Zielvorgabe lautet, dass ab dem Jahr 2030 innerhalb der EU 30 Millionen E-Fahrzeuge zugelassen und drei Millionen öffentliche Ladepunkte in Betrieb sind. Wie ist der aktuelle Stand?

Momentan liegen wir bei rund 2,5 Millionen Fahrzeugen und rund 380.000 öffentlichen Ladepunkten. Diese Zahlen klingen natürlich noch nicht sonderlich verheißungsvoll und es liegt noch ein weiter Weg vor uns, um die Zielvorgaben zu erreichen. Aus diesem Grund haben wir als Teil des Green Deals die Verordnung über die Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (AFIR) auf den Weg gebraucht. Damit wollen wir den Umstieg auf emissionsfreie Fahrzeuge begleiten und sicherstellen, dass es überall eine ausreichende öffentliche Ladeinfrastruktur gibt.

Was genau heißt ausreichend?

Zunächst muss man sagen, dass die Verordnung an alle Verkehrsträger adressiert ist und damit Ladeinfrastruktur für Pkw, leichte und schwere Nutzfahrzeuge, sowie Tankinfrastrukturen für Wasserstoff, Erdgas und Landstromversorgung in Häfen als auch für stationäre Luftfahrzeuge umfasst. Unser AFIR-Vorschlag verpflichtet die Mitglieds-staaten, für jeden batterieelektrischen Pkw und Lieferwagen eine Gesamtleistung von mindestens einer Kilowattstunde durch öffentliche Ladestationen bereitzustellen. Gleichzeitig müssen sie dafür sorgen, dass im gesamten Trans-Europäischen Verkehrswegenetz (TEN-V) und seinen städtischen Knotenpunkten eine Reihe von Ladestationen für leichte und schwere Nutzfahrzeuge zur Verfügung stehen. In einer ersten Ausbaustufe sollen so bis 2025 entlang der wichtigsten Autobahnen alle 60 Kilometer Schnellladepunkte installiert sein. Unser AFIR Vorschlag sieht auch vor, dass im Jahr 2030 im gesamten TEN-V alle 150 Kilometer eine Wasserstofftankstelle mit einem Minimum von zwei Tonnen komprimierten Wasserstoff pro Tag zur Verfügung stehen muss, und alle 450 km auch flüssiger Wasserstoff angeboten wird.

Und falls nicht?

Falls die Vorgaben nicht erfüllt werden, also z.B. die installierte Ladeleistung nicht mit den zugelassenen Fahrzeugen korrespondiert, hat die Kommission natürlich das Recht und die Pflicht, Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat einzuleiten. Sprich: Wer sich nicht an die Verordnung hält, wird sanktioniert. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch die aktuellen Herausforderungen beim Ausbau. Wir bekommen zunehmend Rückmeldungen, dass es zu lange dauert, etwa mit Netzbetreibern Vereinbarungen für den Anschluss und Betrieb größerer Ladeparks abzuschließen. Teilweise dauert es bis zu 18 Monate, bis eine Erlaubnis da ist. Das muss deutlich optimiert werden und die Mitgliedsstaaten müssen dafür sorgen, dass Genehmigungs-verfahren zügiger ablaufen. Unser Vorschlag verpflichtet daher auch die Mitgliedstaaten neue nationale Strategien inklusive Maßnahmen zu erarbeiten, damit wir unsere Ziele erreichen können.

Alle 60 Kilometer ein Ladepark mit Minimumausstattung – ist das tatsächlich genug?

Es gab innerhalb des Rates der EU gerade bei diesem Punkt auch wesentlich ambi-tioniertere Vorstellungen, AFIR hat aber nicht zum Ziel, die optimale Infrastruktur-abdeckung zu regeln. Es ist vollkommen klar, dass in einzelnen Bereichen des Netzes wesentlich mehr Ladeinfrastruktur benötigt wird und auch bereitgestellt wird. Das ist Aufgabe des Marktes. AFIR setzt überall in der EU ein notwendiges Minimum an Ausstattung vor, mit dem Ziel einer grenzüberschreitenden Ladeinfrastruktur, deren Nutzung so einfach wie möglich sein soll. In der Verordnung sind daher beispielsweise auch Regelungen zu Zahlungsoptionen, Preistransparenz, Verbraucherinformationen sowie intelligentem Laden enthalten. Wir wollen damit insbesondere auch sicher-stellen, dass der Bezahlvorgang an den Ladesäulen vereinfacht wird.

Gerade das Bezahlen steht ja vielfach in der Kritik. Vielen ist es zu umständlich, einen Vertrag mit dem Anbieter abzuschließen und quasi für jede Ladesäule eine andere Karte nutzen zu müssen.

Das ist absolut nachvollziehbar. Wir haben zwei Bezahlsysteme: per Vertrag und ad-hoc. Ein einfacher Bezahlvorgang ist ein wesentlicher Aspekt beim Ausbau einer nutzer-freundlichen Infrastruktur. Der eigene Vertrag deckt den größten Teil der Ladevorgänge ab. Es ist gut zu sehen, dass man ihn immer öfter auch an anderen Ladepunkten benutzen kann. Aber das ad-hoc Laden ist gegenwärtig nicht immer einfach. Jede und jeder sollte beim Tanken an jeder Ladesäule mit einer Bankkarte oder einer weit verbreiteten Zahlmethode, die auf Bankkarten basiert, einfach zahlen können – und das selbstverständlich ohne vorherige Registrierung bei einem Ladeserviceanbieter. Hier verbessern wir die gegenwärtige Rechtsgrundlage deutlich.

Wie fällt ein Ländervergleich in Sachen Ladeinfrastruktur innerhalb der EU aus – gibt es Leuchttürme?

Es gibt bislang eine einfache Formel für den Ausbau: Die Infrastruktur folgt der Flotte, also dem Fahrzeugbestand. Das heißt, dass bisher insbesondere Länder mit einem hohen Anteil an E-Fahrzeugen auf dem Markt viel für die Ladeinfrastruktur unter-nommen und erreicht haben. Schweden etwa, Dänemark, Niederlande, Belgien, Frankreich und natürlich allen voran Norwegen. Dort liegt der Anteil an E-Fahrzeugen im Bereich der Neuzulassungen bei dreiviertel aller Neuzulassungen. EU-weit hatten wir im Jahr 2021 einen Schnitt von zehn Prozent, also jedes zehnte zugelassene Fahr-zeug hatte einen Elektroantrieb. Insgesamt sehen wir aber, dass sich der Markt für Ladeinfrastruktur in der EU nicht rasch genug entwickelt und die Gefahr besteht, dass ein Mangel an Infrastruktur den Hochlauf der Fahrzeuge behindert. Deswegen kam unser AFIR Vorschlag.

Und wo liegt Deutschland in dieser Reihe?

Deutschland ist im Vergleich mit anderen Ländern in Europa auch schon ganz schön weit und braucht sich wahrlich nicht zu verstecken. Wie so oft, sind solche Vergleiche aber nicht so einfach und oft auch nicht zielführend. Jedes Land hat seine eigenen Rahmenbedingungen und seinen eigenen Ansatz. Das hängt von ganz vielen Faktoren ab, den strukturellen Bedingungen und vielem mehr. In einer Stadt in Finnland oder Schweden mit vielen privaten Garagen braucht man eben ein anderes Konzept als in einer italienischen Küstenstadt, in der die wenigsten Anwohner über einen privaten Stellplatz verfügen. Entsprechend gibt es unterschiedliche Akzente bei öffentlicher und privater Infrastruktur und auch öffentlicher Schnellladeinfrastruktur. In Deutschland, den Niederlanden und anderen Mitgliedstaaten sehen wir zum Beispiel schon die Inbetriebnahme von großen Schnellladeparks, auch im städtischen Raum. Deswegen setzt die AFIR ja bei der allgemeinen Ladeleistung an, um Flexibilität bei den individuellen Ladetechnologien zu ermöglichen.

Es wird immer wieder diskutiert, wer eigentlich zuständig ist für den Aufbau der Ladeinfrastruktur in Ballungsgebieten. Viele sehen die Kommunen in der Pflicht, Stichwort Daseinsvorsorge. Andere verweisen eher auf private Investoren.

Der europäische Gesetzgeber hat in der so genannten Strommarktrichtlinie festgeschrieben, dass die öffentlichen Netzbetreiber, also etwa die kommunalen Stadtwerke, nur in Fällen von absolutem Marktversagen öffentliche Ladepunkte installieren und betreiben sollen. Gemäß dieser Richtlinie ist Ladeinfrastruktur also keine öffentliche Aufgabe, sondern etwas, das vorrangig über den privaten Markt organisiert werden muss. So ist das ja auch bei den klassischen Tankstellen, die nicht vom Staat oder den Kommunen betrieben werden, sondern von privaten Unternehmen, die…

…oftmals darüber klagen, dass es keine geeigneten Flächen für Ladeparks in lukrativer Lage gibt. Ein Problem?

Die Flächen sind in der Tat ein Problem, weil die mögliche Nutzung einiges an Konfliktpotential mit sich bringt. Über allem steht die grundsätzliche Frage, wie der öffentliche Raum genutzt werden soll. Die Städte sollen ja tendenziell etwas vom Verkehr befreit werden, gefordert wird mehr Platz für Radfahrer und Fußgänger. Um Ladeinfrastruktur aufzubauen, brauche ich aber Stellplätze, womit das Auto wieder präsent und dominant bleibt. Diesen Zielkonflikt muss aber jede Kommune auf ihre Weise lösen, das fällt nicht in die Zuständigkeit der EU.

Die europäischen Klimaschutzziele zu erreichen fällt dagegen schon in ihre Zuständigkeit. Ist Europa auf einem guten Weg?

Wir haben jedenfalls die richtigen Zielvorgaben verabschiedet und sind dabei, das rechtliche Regelwerk neu zu fassen. Wenn wir nur zu Grunde legen, wo wir gerade am Markt stehen und wo wir 2025, 2030, 2035 sein müssen im Bereich der Emissions-minderung, sieht man eine sehr anspruchsvolle Kurve, die wir kriegen müssen und der Druck wird nicht gerade geringer. Jeder sieht und spürt inzwischen ja, wie sehr sich der Klimawandel überall bemerkbar macht. Gleichzeitig haben wir mit der Energiekrise, mit einer schwierigen wirtschaftlichen Situation und auslaufenden Förderprogrammen zu tun. Andererseits, und das ist Anlass zur Hoffnung, hat sich gerade die Automobil-branche als sehr robust erwiesen, auch in der Krise, steht nun aber vor einer großen Herausforderung. Was wir dringend brauchen, sind vernünftige elektrifizierte Kleinwagen. Nur mit teuren SUVs im Premiumsegment bekommen wir die Verkehrs- und Mobilitätswende nicht hin.

Wie stellen Sie sich persönlich die Mobilität der Zukunft vor, was hätten Sie gerne?

Was mich persönlich betrifft ist das ganz einfach: Ich fahre nach Möglichkeit mit dem Fahrrad zur Arbeit, das ist in Brüssel mit seinen unkalkulierbaren Staurisiken ganz sicher die beste Option. In 20 Minuten bin ich verlässlich im Büro. Grundsätzlich gilt für die Zukunft, dass die verschiedenen Verkehrsträger noch viel besser vernetzt werden müssen und dass die unterschiedlichen Bedingungen im städtischen und ländlichen Raum dabei ihre eigenen Antworten brauchen. Die Digitalisierung wird dabei sicherlich eine zentrale Rolle spielen, weil sie Zugang bietet zu Mobilitätsangeboten und die Nutzung deutlich vereinfacht. In diesem Sog werden dann zunehmend neue Mobilitätsdienstleistungen kommen; Mobilität wird sich auch im individuellen Pkw-Bereich viel stärker als Dienstleistung etablieren. Die nächsten 10-15 Jahre wird der gesamte Verkehrssektor eine sehr dynamische Entwicklung erleben, auch in Richtung automatisiertes Fahren. Wir brauchen dabei aber unbedingt intelligente Lösungen. Sonst kreisen am Ende Autos selbstständig durch die Wohnviertel und Einkaufsstraßen, weil gerade kein Parkplatz frei und der Fahrer beim Bäcker ist.

Zur PERSON

Axel Volkery ist stellvertretener Leiter des Referats „Nachhaltiger und intelligenter Verkehr“ in der Generaldirektion Mobilität und Verkehr der Europäischen Kommission. Das Referat verantwortet das europäische Regelwerk zum Ausbau der Infrastruktur von alternativen Kraftstoffen, zur öffentlichen Beschaffung sauberer Fahrzeuge, zu intelligenten Verkehrssystemen und zur Digitalisierung im Straßenverkehr.

Zuvor war Axel Volkery beim Institut für Europäische Umweltpolitik, bei der Europäischen Umweltbehörde, dem Sachverständigenrat für Umweltfragen und der Freien Universität Berlin beschäftigt. Mobilität erfindet sich gerade neu an den Schnittstellen von Antriebswende, Digitalisierung und Automatisierung – mit vielen Chancen und Herausforderungen, die pragmatisch angegangen werden müssen. Für Axel Volkery gibt es kaum ein spannenderes Betätigungsfeld.

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Das Interview führten Alexandra Bading (Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH) und Markus Heffner (Journalist und Redaktionsbüro) im November 2022.