Vieles hat sich verändert seit Beginn der Corona-Pandemie, auch im Bereich der Mobilität. Motiviert von den vielfältigen Folgen der Ausnahmesituation denken Städte und Metropolen überall auf der Welt ihre Verkehrsstrategie neu – von Wien bis Vancouver, von Mexiko City bis Budapest. Wohnstraßen werden in Begegnungszonen umgewandelt, Tarife für den öffentlichen Nahverkehr umgekrempelt, Nebenstraßen zur autofreien Zone erklärt und dem Fuß- und Radverkehr überlassen. Die Stadtplaner sind sich dabei trotz unterschiedlicher Konzepte weitgehend einig, dass der Raum in der Stadt neu verteilt werden muss. Die schlichte Formel lautet: Mehr Fahrrad, weniger Auto. Auch in der Landeshauptstadt Stuttgart wurde dieser Tage auf der viel befahrenen Theodor-Heuss-Straße eine so genannte Pop-up-Bike-Lane eröffnet, eine temporäre Fahrradspur.
Gleichzeitig haben Unternehmen wie der Siemens-Konzern angekündigt, die unterschiedlichen Möglichkeiten des mobilen Arbeitens künftig massiv auszuweiten. Viele Firmen sind mit beeindruckender Geschwindigkeit „Auf dem Weg zum New Normal“, so der Name einer aktuellen Studie des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Das Ergebnis der Untersuchung in Kurzform: Es ist in unglaublich kurzer Zeit unglaublich viel in Bewegung gekommen. Mehr als 500 Unternehmen haben sich an der Studie beteiligt. Fast 70 Prozent der Befragten haben dabei angegeben, dass ihre Angestellten in der Corona-Phase komplett im Homeoffice gearbeitet haben und sich auch teilweise weiterhin nur über Telkos oder Videokonferenzen mit Vorgesetzten oder Kollegen austauschen. „Die Ergebnisse sind beeindruckend“, so die Studienleiterin Dr. Josephine Hofmann vom Fraunhofer IAO, die vor allem das agile, schnelle Vorgehen in den Unternehmen und den Mut bemerkenswert findet, Neues schnell umzusetzen, wie sie sagt: „Wir erleben ein großflächiges, bundesweites Experiment der Digitalisierung von Arbeit und Kooperation, dessen Veränderungsgeschwindigkeit bis vor kurzem noch undenkbar erschien.“
Die WRS hat im Mai eine eigene Erhebung in ihrem regionalen Netzwerk zum betrieblichen Mobilitätsmanagement durchgeführt – auch in der Region Stuttgart hat das mobile Arbeiten enorm an Bedeutung gewonnen, wie die Ergebnisse des „WRS-Blitzlicht Homeoffice“ gezeigt haben.
So dynamisch, wie die Umsetzung der „Arbeit auf Distanz“ vonstatten ging, so sehr hat die Krise aber auch den Wandel zu einer neuen Mobilität und intermodalen Verkehrskonzepten ausgebremst. Nicht nur die S-Bahn in der Region Stuttgart hatte im April dieses Jahres einen Fahrgasteinbruch von bis zu 90 Prozent zu verzeichnen. Auch die Anbieter von Sharing-Modellen wie Leihfahrräder, E-Scooter oder Pedelecs waren und sind von der Zurückhaltung stark betroffen. Zwischenzeitlich erlebt die Kultur des Teilens, auch „Sharing Economy“ genannt, wieder einen sanften Aufschwung, wofür etwa auch das Comeback des E-Scooterverleihs Voi in Stuttgart steht. Seit Ende Mai steht die Flotte des schwedischen Unternehmens wieder in der Landeshauptstadt, wobei die Verteilung der E-Scooter den geänderten Anforderungen angepasst wurde. So hat das Unternehmen die Verfügbarkeit in Wohn- und Außenbezirken deutlich hochgefahren und gleichzeitig wurde eine Art Vielfahrerrabatt eingeführt. Aber auch Anbieter wie das Fahrrad- und Pedelec-Verleihsystem RegioRadStuttgart haben reagiert und beispielsweise in allen Tarifen die Tagespreise gesenkt, um wieder zu einer höheren Auslastung zu kommen. Und als Dankeschön dafür, dass sie während der Corona-Pandemie ihr Abo nicht gekündigt haben, fahren beim VVS die Besitzer*innen von JahresTickets und StudiTickets in den Sommerferien (vom 30. Juli bis zum 13. September) im Nahverkehr in ganz Baden-Württembergs, ohne ein Extra-Ticket kaufen zu müssen (Link zur Webseite des VVS).
Als einer der Treiber des Mobilitätswandels versteht sich auch das Verbundprojekt „LINOx BW“, das über den Aufbau einer flächendeckenden Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge zur Senkung der Stickstoffbelastung im Land beitragen will. Unter Federführung des Städtetags Baden-Württemberg richtet sich das Projekt an jene Kommunen im Land, in denen NOx-Grenzwertüberschreitungen festgestellt wurden. Mehr als 1000 Ladepunkte in 23 Kommunen wurden zwischenzeitlich über das Programm gefördert. Nun werden die Wirkung und Effekte dieser Maßnahmen in den einzelnen Kommunen in einem gemeinsamen Forschungsprojekt untersucht und dokumentiert.
Viele Wissenschaftlicher und Verkehrsexperten wie etwa der Soziologie-Professor Andreas Knie, der Leiter der Forschungsgruppe „Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung“ am Wissenschaftszentrum Berlin ist und als einer der führenden Mobilitätsexperten in Deutschland gilt, fordern nach den jüngsten Erfahrungen ein radikales Umdenken. Der begrenzt vorhandene Raum in den Städten müsse ganz neu verteilt werden, so der Appell. Wie das aussehen könnte, hat jüngst beispielsweise die kolumbianische Hauptstadt Bogotà vorgeführt. Dort haben die Stadtplaner auf einer Länge von rund hundert Kilometern temporäre Fahrradspuren entlang der großen Hauptverkehrsstraßen eingerichtet, um auch den ÖPNV zu entlasten. Andere Städte sind dem Beispiel gefolgt und haben etwa auf einer vierspurigen Straße eine Autospur gesperrt und exklusiv für Radfahrer freigegeben, etwa auch die Metropolen New York und Berlin.